10 Jahre Luftangriff Kunduz: Vergessen statt Gedenken?

Unmittelbar vor dem 10. Jahrestag des Luftangriffs von Kunduz am 4. September 2009 mit über 100 Toten und all dem, was diese Katastrophe für Afghanistan und die deutsche Öffentlichkeit bedeutet bis heute, ist Kundus erneut von Taliban-Kämpfern angegriffen und zeitweise besetzt worden. Mittlerweile scheinen die Kämpfer getötet oder wieder aus der Stadt vertrieben. Aber die Vorgänge vom vergangenen Wochenende zeigen einmal mehr, wie stark die Verhandlungsposition der Taliban bei den Gesprächen in Doha über einen Abzug der US-Truppen und mögliche Sicherheitsgarantien für Afghanistan mittlerweile geworden sind.

Deutschland und die deutsche Öffentlichkeit tun sich schwer mit dem Gedenken an die Toten von Kundus, die Vorgänge um die Umstände des Luftangriffs damals, den der damalige Oberst Klein anordnete. Siehe hierzu mein Kommentar
in Deutschlandfunk Kultur (hier; und in voller Länge unten).
Außerdem die Gedenk- und Diskussions-Veranstaltung in Zusammenarbeit mit der Bundeszentrale für politische Bildung, dem WDR und dem Forum VHS Köln. Hier der link zur Diskussion, die am vergangenen Donnerstag
zeitversetzt ausgetrahlt wurde.
https://www1.wdr.de/radio/wdr5/veranstaltungen/10-jahre-nach-kundus-102.html

Tod auf deutschen Befehl
10 Jahre Luftangriff von Kundus – warum das Gedenken schwer fällt

„Geh nach Kundus. Dort lauert der Tod auf dich“. Dieses afghanische Sprichwort trifft auch uns Deutsche. Denn heute jährt sich zum zehnten Mal der fatale Luftangriff , den die Bundeswehr am 4.  September 2009 veranlasste. Bei der Bombardierung kamen über 100 Menschen ums Leben, darunter viele Zivilisten.

Die Bilder sind vielen noch in Erinnerung: zwei ausgebrannte Tanklaster in einem flachen Fluss mit Kiesbett. Verkohlte Leichen, wild verstreut in alle Richtungen und bis zur Unkenntlichkeit verbrannt. Körper von Jungen und kleinen Kindern darunter. Alles mutmaßliche Taliban? Oder Zivilisten, die kamen, um Benzin von dem Laster abzuzapfen, der im Flussbett steckte. Und von dem der deutsche Oberst Klein annahm, es handle sich um eine fahrende Bombe gegen das deutsche Militärlager, eine halbe Stunde Fahrzeit vom Tatort entfernt?

Ein deutsches Gericht urteilte damals, der Befehl für den Luftangriff verstoße nicht gegen Kriegs- und Völkerrecht. Eine juristische Entschädigung der Hinterbliebenen war damit erledigt. Die 5.000 Euro, die jeder der Hinterbliebenen bekam, wurde zur Winter- und -Nothilfe erklärt. Eingeständnis, Schuld und die Auseinandersetzung mit Sühne, das musste allen klar sein, liessen sich damit nur notdürftig bemänteln.

Seitdem wurde auf Krieg in Afghanistan plädiert und wiederholt gestorbener deutscher Soldaten gedacht. Mit der Erinnerung an die afghanischen Opfer von Kundus dagegen tut sich die Bundeswehr schwer. „Zur Erinnerungskultur, dem Ort und dem Zustand der Gräber der Opfer lägen der Bundesregierung keine Erkenntnisse vor, heisst es auf eine aktuelle Anfrage aus dem Bundestag. Völkerrechtlich zulässig, strafrechtlich gerechtfertigt, so das offizielle Mantra, das sich keinen Raum für Reflexion gibt. Nur so aber wäre zu lernen aus diesem GAU.

Auch die deutsche Öffentlichkeit tut sich entsprechend schwer mit dem Thema, dem Einsatz am Hindukusch sofern die Medien sie überhaupt ausreichend ins Bild setzen. 

Wie also kann so ein Gedenken aussehen, an diesen vernichtendsten Befehl eines deutschen Militärs nach dem 2. Weltkrieg? Wäre es an der Zeit, das Oberst Klein, der längst zum General befördert ist, sein Schweigen bricht zum heutigen Tag und uns in seine Gedanken damals einweiht? War Oberst Klein damals gesundheitlich diensttauglich für den Einsatz? Die Frage macht bis heute Schlagzeilen. War sein Votum für Fliegerbomben aus der Luft verhältnismäßig, angesichts grauer Punkte auf dem Radarschirm, die nicht klar als Taliban oder Zivilisten zu erkennen waren? Und reichte ein einziger Informant am Boden aus, der dazu nicht einmal am Tatort war, um den roten Knopf zu betätigen? Deutsche Gerichte haben diese Fragen zugunsten von Bundeswehr und NATO in Afghanistan beantwortet. Ziel war, eine juristische Mitverantwortung am Tod afghanischer Zivilisten auszuschliessen – alles andere wäre womöglich teuer geworden.

Eine Erinnerungskultur, die wir für den heutigen Anlass brauchen, ist mehr, als sich per Gericht Fragen von Schuld und Verantwortung vom Leib zu halten. Schon im Kundus-Untersuchungsausschuss, der zwei Jahre tagte, kamen nur vereinzelt afghanische Zeugen zu Wort. So als könnten allein wir, die Intervenierten, ein passendes Urteil über die Umstände des Luftangriffs fällen. 
 Herzen und Verstand der Menschen in Kundus und Afghanistan wollten Bundeswehr und Nato-Militär einst am Hindukusch gewinnen. Und sich den Terror in Europa vom Leib halten. Beides ist schief gegangen. Jetzt sitzen die Taliban am längeren Hebel der Friedens-Verhandlungen mit den USA in Dubai. Und haben, für kurze Zeit, Kundus nach 2015 jetzt zum dritten Mal erkämpft.

Das afghanische Volk fühlt sich einmal mehr im Stich gelassen. Verraten. 
Daraus liesse sich lernen: für den Krieg im Irak, in Mali oder in Syrien, dessen Zukunft sich ein Stück weit vorhersagen lässt, wenn man die Lektionen des Afghanistan-Kriegs lernt. Zum Frieden muss die Entwaffnung der Taliban gehören, sonst bleibt alles Makulatur. Auch das Ende von Waffenlieferungen in die Konfliktländer. Mehr zivile Hilfe stattdessen. Die Menschen vor Ort müssen Lohn und Brot haben, und eine Lebensperspektive vor Ort. Humanitäre Hilfe muss die Menschen vor Ort ermächtigen, anstatt ihre Not zu managen und unseren Hilfs-Industrien ein Alibi zu verschaffen. Die Toten von Kundus, gleich ob sie für die Taliban Sympathie hatten oder nicht, waren Menschen. Sie sollten uns eine Mahnung sein, eine interventionistische Hybris zu erkennen und zu reflektieren. Damit morgen in Gao, Mossul oder Idlib nicht wieder Menschen unverhältnismäßig sterben, und sei es, was nicht zu hoffen ist, auf Befehl deutscher Soldaten.