Afghanistan Abzug: Ist nach dem Krieg vor dem Krieg?

In einem Kommentar für Deutschlandfunk Kultur von heute beschäftige ich mich mit den Folgen des militärischen US-/NATO- und deutschen Abzugs aus Afghanistan, der jetzt noch einmal vorgezogen wird, ganz offenbar, um sich die Taliban, ein weiteres Mal, nicht als Gesprächspartner im Doha-Prozess zu verlieren.
Unten der Kommentarf in voller Länge, die DLFKultur Version fällt um einige wichtige Punkte kürzer aus:

Ist nach dem Afghanistan-Krieg  womöglich vor dem Afghanistan-Krieg?
Das Echo auf die jüngste Entscheidung von USA und Europäern, ihre Truppen vom Hindukusch bis September abzuziehen, geht jedenfalls mit pessimistischen Prognosen weltweit zusammen. Vor einen neuen Bürgerkrieg in Afghanistan wird gewarnt.

Das militärische aber auch das moralische Scheitern des Westens und der NATO in Afghanistan liegen so offen zutage wie nie zuvor: Angetreten als Wertegemeinschaft, die weltweit für Ordnung sorgen will, wenn es sein muss, hat das Bündnis politisch insbesondere Afghanistans Frauen vor-, ja irregeführt, wie sich jetzt herausstellt. Sie wurden im Kampf gegen Terror, für Menschenrechte und State-Building selbst von 18-jährigen US-Soldaten immer wieder als Begründung für eigenes Tun vorangestellt.
Jetzt gibt man diese Frauen auf. Selbst wenn es gelingen sollte, die Taliban von der Macht fernzuhalten, nehmen ihre Rechte als erste Schaden – wie schon nach dem Rückzug der meisten ausländischen Truppen seit 2014 geschehen.
 Letztes Jahr hat Donald Trump dann der Welt mit seinem Deal mit den Taliban ein vergiftetes Geschenk hinterlassen. Sein Nachfolger Biden, aber auch die Welt werden dies in den nächsten Jahren noch zu spüren bekommen. So fehlt bei den Doha-Verhandlungen die afghanische Regierung am Tisch. So wie die Taliban 2001 bei der Bonner Petersberg-Konferenz gefehlt haben. Staat und afghanische Institutionen werden so geschwächt, die man nach 2001 eigentlich stabilisieren wollte.

Nachdem auch die Istanbul-Konferenz kommende Woche vertagt ist, wird es schwer den Doha-Prozess zu retten. Dort beraten langjährige Mujaheddin-Führer mit. Manchen käme eine Interims-Regierung mit den Taliban gelegen. Es würde ihre Privilegien sichern. Hier rächt sich, dass man diese sogenannten Warlords 2001 nicht ins zweite Glied zurückverhandelt oder verurteilt hat. Eine denkbare Allianz aus Taliban und ehemaligen Mujaheddin, hätte die Sprengkraft für einen neuen Exodus vieler Afghanen. Afghanistans Nachbarrepubliken Iran, Pakistan, die Kaukasusrepubliken wären dann die ersten Leidtragenden solcher Fluchtmigration. Aber auch Deutschland und Europa. Griechenland lässt grüssen. Dort sind zur Zeit 70 Prozent aller Moria-Flüchtlinge auf Lesbos Afghanen.

Theoretisch steckt in dem Abzug eine Chance: nämlich alle militärischen Ausgaben in zivile Hilfe für Afghanistan und die Region zu stecken. Das Land in puncto Sonnenkollektoren oder seltene Erden international konkurrenzfähig zu machen. Das setzt allerdings eine Seidenstrasse voraus, wie sie China initiiert hat, die Afghanistan unter die Arme greift und nicht zum Ort für Stellvertreterkriege macht.

Unverändert zählt: Ohne Pakistan keine kämpfenden Taliban. USA, Rußland und China könnten Druck auf Islamabad machen, das scheitert bisher am manövrier-unfähigen UN-Sicherheitsrat. Und weil sich Islamabad als Atommacht regional stärker emanzipiert, als den Großmächten lieb ist.
 Der Abzug dürfte mehr US-Drohnen-Flüge über Afghanistan bedeuten. Auch von US-Vorposten im Kaukasus lässt sich weiter Krieg in Afghanistan führen, wenn nötig. Dort bleibt der regionale Ableger des IS eine schwer kalkulierbare Grösse. Und die riesige US-Botschaft in Kabul ein verwundbares Ziel.

USA und Bundeswehr haben es auf einmal ganz eilig abzuziehen, die deutsche Regierung will, wie es jetzt heisst, bis 4. Juli soweit sein. Ein Versuch von US-Regierung und NATO-Partbern die Taliban ein Stück entgegenzukommen und sie am Verhandlungstisch zu halten.

Berlin ist bereit, jene Afghanen, die für die Bundeswehr arbeiten, bei uns in Sicherheit zu bringen. Konsequent wäre, solche Überlegungen auch für die zivilen afghanischen Helfer in deutschen Diensten anzustellen. Ob deutsche Helfer im Land bleiben, nach dem Abzug der Bundeswehr? Offiziell hiess es immer: zivile Hilfe funktioniert nur gestützt auf militärische Präsenz, der sogenannte vernetzte Ansatz. Das stimmt nur bedingt. Auch unter den Taliban, von 1994 bis 2001, arbeiteten zivile Hilfsorganisationen in Kabul, neben der UN. Ohne militärische Garantien ist gleichwohl wahrscheinlich, dass sich weitere Organisationen und ausländische Investoren zurückziehen.

Der kommende Sommer könnte blutig werden. Noch finanzieren die USA Afghanistans Streitkräfte. Ohne US-Dollars würden sie nach 2024 kollabieren. Dabei ist unwahrscheinlich, das der US-Kongress Kabuls Truppen ohne Soldaten vor Ort lange finanziert. Europa und die Welt müssen sich also etwas einfallen lassen, wenn ihnen Afghanistan nicht wieder schnell vor die Füße fallen soll. Die große Unbekannte sind die Taliban. Wie sie, die keine Frauen in ihrem Verhandlungsteam haben, dem anderen Geschlecht künftig seinen Platz einräumen, ist nicht erkennbar.