Afghanistan: Gehen oder bleiben? Bidens schwieriges Erbe

Hier mein aktueller Kommentar von heute im DLF (s. hier)
und die ungekürtze Version.
(Foto: Flüchtlingsfriedhof auf Lesbos, wo viele Afghanen zur Zeit gestrandet sind)

Bleiben oder Abzug vom Hindukusch? 

Bleiben oder gehen?
Im Fall Afghanistan gibt es, anders als viele meinen, keine einfache Antwort. Ein vollständiger Abzug überlässt die verfeindeten Gruppen im Land sich selbst und könnte die Gefahr bürgerkriegsähnlicher Zustände zur Folge haben. Er wäre ein Bruch vieler Versprechen an die Bevölkerung, mit weitreichenden negativen Folgen für die Sicherheit der Menschen und möglichen neuen Fluchtbewegungen nach Europa.

Ein Bleiben der restlichen NATO-Truppen am Hindukusch würde den Taliban die Suppe versalzen, die über den Abzug der USA und der restlichen Nato-Kontingente frohlocken. Ihr Traum und wirkmächtiges Narrativ weniger Tausend Waffenbrüder, die – ähnlich den Mujaheddin gegen die Rote Armee – das taumelnde Imperium USA und den Westen besiegen, wäre dahin. Auch in diesem Fall wäre mit neuem und mehr Krieg zu rechnen als ohnehin schon. Kein Königsweg also. Die letzten zwanzig Jahre lassen grüßen.

Die Pax Americana für Afghanistan, wie Donald Trump sie vor genau einem Jahr den Taliban verbrieft hatte, gegen vielerlei warnende Stimmen im eigenen Lager, war von Anfang an ein vergiftetes Gemisch aus Innenpolitik und außenpolitischem Vabanque-Spiel. Dass Deutschland mit in den Strudel geraten würde, war absehbar.
Jetzt muss die neue Biden-Regierung entscheiden, wo das kleinere Risiko liegt. Und wie ernst sie es mit den Menschen in Afghanistan meint. Den Abzug aufzuschieben bringt verlorenes Kapital bei einem Teil der Afghanen zurück. Sicherer macht es das Land nicht automatisch. An der Heimatfront hält es die in westlichen Demokratien typische Debatte am Köcheln, die lautet: „Bring the boys home“.

Selbst wenn der Abzug bis Mai nicht erfolgt: die US-Regierung müsste jetzt die Taliban zu einer Waffenruhe überreden. Dazu aber fehlen ihr aktuell wohl die diplomatischen Mittel. Auch ist keine neutrale Instanz in Sicht, die einen Waffenstillstand im Feld überprüft und zur Not sanktionieren könnte.
Die Verhandlungen in Doha zwischen Taliban und Vertretern der Kabuler Regierung samt Zivilgesellschaft sind derweil seit Monaten an einem toten Punkt. Das macht alles noch schlimmer. Terror und Gewalt haben zuletzt deutlich zugenommen. Aber auch die organisierte Kriminalität gedeiht wie nie. Raub und Mord am hellichten Tag, Sterben für ein Handy, ein Motorrad – diese Angst im Alltag atmet in Kabul oder Herat oft mehr als die Angst vor Taliban. Vor diesen Gefahren schützt das internationale Militär nicht.

Beim nächsten Schritt am Verhandlungstisch würde es ans Eingemachte gehen: Menschen- und Frauenrechte, Pressefreiheit, Wahlen als Weg des Machterwerbs auf Zeit, Justiz, die sich an internationales Recht hält.
Zu all dem halten sich die Taliban bedeckt. Vieles spricht dafür, dass sie – am Ende – die Macht ganz wollen. Taliban an der Macht könnte auch mehr Menschen auf der Flucht, vor den Toren Europas bedeuten. 
Was ist die Folge daraus? Stärkung des Militärischen auf Kosten der zivilen Hilfe? Mehr Soldaten für Afghanistan waren in den letzten 20 Jahren selten ein Segen. Ich habe es Jahr um Jahr selbst miterleben können.

Gewinnen können das Land und die Menschen vor allem dann, wenn wir, der Westen jetzt massiv in Corona-Hilfe für die Armen investieren. Und nachhaltig Arbeit schaffen. Bis zu einem Drittel der Bevölkerung, so Schätzungen, könnten sich mit dem Virus infizieren. Millionen leiden als Folge der Pandemie Not, manche Hunger. Bevor in Afghanistan flächendeckend geimpft wird, vergehen möglicherweise Jahre. Es sei denn, wir machen Afghanistan ein faires Angebot. Auch die Nato, vielleicht besonders sie, könnte sich daran beteiligen.