Aufklären oder vernebeln? Über Medien in der Migrationsdebatte / Stuttgart 24.- 26. Januar

Auf den Hohenheimer Tagen zum Migrationsrecht, dem seit über 35 Jahren institutionalisierten Stuttgarter Forum zum Asyl-, Migrations- und Ausländerrecht in Deutschland debattiere ich diese Woche zusammen mit dem Medienwissenschaftler und Journalisten, Prof. Dr. Michael Haller zum Thema

Aufklären oder vernebeln? Die heikle Rolle der Medien in der Migrationsdebatte (hier), siehe hier zu meinen Notizen des Votrags bzw. unten

Anlass für das Forum sind die aktuellen Diskussionen um Fake News, Medienglaubwürdigkeit und Framing, so die Veranstalter. 

Gesucht wird ein sinnvoller Beitrag der Medien zum gesellschaftlichen Zusammenhalt in der Migrationsdebatte: In dem Forum soll die Rolle der Medien bei der (Nicht-)Beförderung von gesellschaftlichem Zusammenhalt in der Migrationsdebatte beleuchtet werden, als auch die Frage, wie ehrenamtliche und hauptamtliche Akteure der Migrationsarbeit ihre Anliegen mit die Medien besser kommunizieren können.

hier und hier geht es zum kompletten Programm der Hohenheimer Tage 2020 Migrationspolitik und gesellschaftlicher Zusammenhalt

 

Aufklären oder vernebeln? Die heikle Rolle der Medien in der Migrationsdebatte

Zum Stand des Medien-Diskurses in der Migrationsdebatte



-Die aktuelle gesellschaftliche Krise spiegelt auch eine Krise der Medien (als pars pro toto). Dabei stellt sich die Frage, wie Letztere ihre Rolle bei der Suche nach gesellschaftlichem Zusammenhalt definiert. Auch aufgrund fehlender Selbstkritik ist dies bisher wenig zur Sprache gekommen. Eine Anzahl wissenschaftlicher Studien in den vergangenen Jahren über die Rolle der Medien zum Thema Migration hat zwar relevante Stichworte produziert, aber nicht den erhofften, breiten Diskurs befördert und wenig grundsätzliche Veränderungen bei den betroffenen Medien ausgelöst
-Zur Krise der Medien als Teil der gesellschaftlichen Krise ein Beispiel aus der Berichterstattung der vergangenen Wochen: Die Anzahl der Frauen, die in Deutschland von ihren Ehemännern getötet werden, ist unverändert hoch. Ohne, dass dies allerdings ein nennenswertes Echo auslösen würde in der Presse. Vielmehr ist im untersuchten Zeitraum der Raub der Diamanten im Dresdner Grünen Gewölbe dominierendes Thema, siehe http://martingerner.de/2019-wie-wir-unsere-zivilisiertheit-verlieren/)
-der Verlust normativer Überlegungen und Standards auf Seiten der Medien geht einher mit der inhaltlichen Krise des Journalismus. Investigativem Journalismus zum Thema Migration ist selten; Der Mangel an investigativem Journalismus wird ein ums andere Mal begründet mit enormen Sparzwängen, die fast alle Medien für die Ausfälle anführen. Dabei wäre vermutlich eine einfache Verlagerung von Themen-Schwerpunkten schon die Lösung
-wir haben es also vermehrt mit Fragen journalistischer Standards und Qualität zu tun; gelegentlich auch mit Fragen von Haltung: denn nicht der Staat, Institutionen oder Behörden sind Garanten für gesellschaftlichen Zusammenhalt, sondern Menschen und Personen, die diese ausfüllen; hilfreich ist hier insbesondere interdisziplinäres Denken. Gerade unabhängige Autoren mit Langzeiterfahrung im journalistischen wie gesellschaftlichen Alltag bringen dies mit
-Das digitale Zeitalter bringt neue Herausforderungen mit sich: wir erleben gegenwärtig das Ende der sogenannten Leitmedien. Die junge Generation lebt in einer völlig veränderten Medienlogik und mit gänzlich anderen Konsumgewohnheiten. Fernsehen, Hörfunk, Printmedien sind für sie oft keine Referenz mehr.
-Durch Social-Media, Influencer-Kulturen und (auf gesellschaftliche Spaltung angelegte) Kampagnen in diversen social media (fake news, bots, Einsatz von Algorithmen), sind bisherige Medien-Eliten gezwungen, sich – nolens volens – mit neuen, selbstberufenen Autoren und Plattformen auseinanderzusetzen. Eine „nervige Flut kaum mehr auszuhaltender Medien“ und ihre oft „unerträglichen Zuspitzungen“ prägen das Bild – so das wiederholte Echo unserer Zuhörer im Hohenheimer Forum, was dann auch einen Teil unserer Diskussion bestimmte. Konsequenz: einige der Teilnehmer stellen den Konsum von Medien ein. Qualitativ schlechtere Online-Medien bieten ihnen dabei offenbar keinen ausreichenden Ersatz, darf geschlussfolgert werden.

Medien in der Migrations-Debatte

-Empirische wie persönliche Befunde zeigen: von September 2015 an folgen die sog. Leitmedien einem Trend in der Politik: Willkommenskultur und was darunter subsumiert wird, wird gross geschrieben. Ab ca. Mitte 2016 nimmt die Debatte in Medien und Öffentlichkeit dann zunehmend eine Wende zu Narrativen der Dramatisierung und Gefahren-Semantik, von Kriminalitäts-, Überrepräsentations- und anderen Negativ-Topoi. Dem stehen wenig eigene Narrative und Themensetzungen der Medien gegenüber. Eine realistische Einschätzung von Grösse und Dimension der Migrations- und Fluchtproblematik in globalem Maßstab fehlte. Ebenso eine adäquate, von Wissen und Recherche geprägte Berichterstattung über Fluchtursachen und Wege zu ihrer Bekämpfung. Beides wäre angetan, Hysterie und konjunkturelle Überhitzung aus der Debatte zu nehmen.
-manche Medien prägen (selbst), andere übernehmen (unreflektiert) aufgeladene Sprache aus Politik und Öffentlichkeit bzw. senden diese in den öffentlichen Diskurs zurück. Befeuert wird dies durch Boulevard-Medien bis hin zu social Media Kampagnen. Bedenklich erscheint hier z.B. die Rhetorik über sogenannte „Gefährder“. Der Begriff hat mittlerweile und bedauerlicherweise Eingang in die juristische Fachsprache gefunden. Er bleibt dabei diskriminierend, weil einseitig auf eine bzw. wenige bestimmte Gruppen angewandt und in (fast) allen Medien unhinterfragt, was wiederum seine Verbreitung erleichtert. Problematisch sind auch Begriffe wie „Bio-Deutscher“, die unreflektiert Eingang selbst in Leitmedien gefunden haben. Anfangs ironisierend gemeint von ihren Erfindern, können sie so von ihren Gegnern aufgenommen und instrumentalisiert worden
-Verstärkt wird dies durch den Topos des „war on terror“ bzw. ähnlich lautender Konzepte und Termini zur präventiven Gefahrenabwehr. Er geht zusammen mit der Stigmatisierung in Presse und Medien von mutmaßlichen Tätern durch explizite Nennung ihrer Religion, Herkunft und/oder Ethnie. Diese Praxis ist umstritten und weiterhin Gegenstand der Untersuchung von diversen Presse-Räten u.a.
-Nicht weniger bedenklich sind Formen von Berichten, die stereotyp die Kosten und eine merkantile Nutzenanalyse von Migration und Zugewanderten in den Vordergrund stellen und diese Menschen so zu statistischem Material machen
-Unverändert gibt es wenig positives Nachrichten-Setting durch kreativen, gut recherchierten Journalismus. Ausführliche, repräsentative Stimmen von Zugewanderten fehlen in der Berichterstattung (BE) fast durchweg, auch nach den Befunden der meisten vorliegenden Studien
-zu mangelnder Recherche kommt medialer Herdentrieb, d.h. Journalisten schauen i.d.R., was ihre Kollegen machen und folgen diesen Narrativen: womöglich falsche Vorverurteilungen – etwa von Gruppen wie Nordafrikanern bei der Silvesternacht in Köln 2015/16 – bleiben so unhinterfragt. Dabei bestünde Anlass, die bekannten Narrative ggf. umzuschreiben. Vergleiche hierzu u.a. Zahlen, die der Kölner Stadt-Anzeige ein Jahr nach den Ereignissen veröffentlicht hat, denen aber keine überregionalen (Leit)Medien nachgegangen sind
https://www.ksta.de/koeln/neue-erkenntnisse-der-polizei-offenbar-kaum-nordafrikaner-zu-silvester-in-koeln-25533064

Gesellschaftlicher Zusammenhalt

-Provokativ gefragt: Wollen Medien diesen überhaupt? Welche wollen ihn und welche weniger?
Fragwürdig auch vor dem Hintergrund eines sich stetig veränderndes Selbstverständnis der Medien in gesellschaftlichem Kontext
-die ursprüngliche Funktion der Medien laute: Watch Dog sein, Korrektiv, vierten Macht bzw. Gewalt, Stärkung der freiheitlich-demokratischen Grundordnung u.a.
-faktische Verschiebungen (weg von diesem Ideal) in den vergangenen Jahren:
a) infolge der Privatisierung der Meiden in den 80er Jahren;
b) infolge des Aufkommens digitaler Medien zur Jahrtausendwende; daraus folgt
c) der Primat der Spaß-, Unterhaltungs- & Sensationsmedien: also tendenziell aggressiv statt korrektiv 
-journalistische Standards geraten in die Defensive; verbreitete qualitative Mängel im Handwerk in der BE u.a. Ausbleiben von 2-Quellenprinzip; Darstellung/Gegendarstellung. Vor allem bekommt Tempo und Schnelligkeit im medialen Konkurrenzkampf Vorrang vor Verifizierung und Präzision
-die Themen Flucht und Migration polarisieren dabei; sog. Leit-Medien verstärken Ängste und Sorgen von einer angeblichen Entfremdung der Gesellschaft
-Kernproblem dabei: die meisten Medienmacher kennen i.d.Regel nur eine Seite der Debatte, weil ihnen – meist von der eigenen Biografie – der Blick der Fremden selbst fremd bleibt!
-so fehlt es v.a. an migrierten Biografien in deutschen Medien-Redaktionen, auch und gerade bei den sog. (Leit)Medien 
-Gruppen/Vereinigungen wie z.B. die Neuen Medienmacher gründen und agieren erfolgreich gegen diesen Zustand und bilden einen Trend. Sie reichen aber nicht aus, auch weil sie nicht die Masse der ab 2015 aus dem Ausland hinzugekommenen Medien-Vertreter repräsentieren; immerhin erhöhen sie den Druck auf eine realere Abbildung migrierter Biografien in Medien-Berufen
-Unverändert fehlt die breite und systematische Einbeziehung von Migranten und Flüchtlingen und ihrer Geschichten in den öffentlichen Diskurs. Die Medien erscheint hier Abbild der Gesellschaft: selbst die Zivilgesellschaft kommt z.B. oft nicht über rein-deutschsprachige Websites im Migrations-Diskurs hinaus. Ein Dialog auf Augenhöhe kann so nicht zustande kommen
-Positive Gegenbeispiele und Desiderate wären etwa: BE über den Tag bzw. die Woche aus Sicht meines neuen Nachbarn aus Syrien/AFG/Iran/Türkei etc. Oder regelmäßig veröffentlichte Video-Briefe von den Brennpunkten der deutschen Debatte bzw. den Fluchtrouten. Auch fehlt es an kritischen Stimmen von Zuwanderern im deutschen Feuilleton. Zu lesen sind diese Stimmen stattdessen v.a. in einer Anzahl fremd-sprachiger, z.T. öffentlich geförderter Monats-Blätter oder online-Zeitungen, die quasi karitativen Charakter haben (Beispiel die arabisch-sprachige Zeitung Abwab, Auflage ca. 50.000; https://www.abwab.eu/deutsch/)

Erfahrungen aus Korrespondenten-Tätigkeit in Fluchtländern und in Deutschland



-es fehlt an Wissen über Flucht-Routen, Länder und Kultur Migranten, insbesondere über globale ökonomische Zusammenhänge, die Flucht auslösen; stattdessen sind schnell bekannte Etiketten zur Hand: „Wirtschaftsflüchtlinge“, „sichere Rückkehrstaaten“ etc.
-in der Debatte um das Fachkräfte-Zuwanderungs-Gesetz fehlen reflektierte Töne und Beiträge, die Vor-/Nachteile der Abwerbung von Fachkräften aus den Entwicklungsländern thematisieren (Stichwort Brain Drain u.a.)
-Kosten-Debatte: ein Großteil der Medien investiert kaum in die Recherche in Krisen/Konflikt- und Fluchtländer; so haben deutsche (Leit)Medien seit 2001 in Afghanistan oder vor/nach 2011 für Syrien so gut wie zu keinem Zeitpunkt Korrespondenten an den Orten des Geschehens. Man liess bzw. lässt stattdessen Korrespondenten aus Delhi bzw. Kairo teuer und nur kurz ein- und ausfliegen. Zwar arbeitet man vor Ort mit einheimischen Stringern, deren Sicht und Narrativ wird aber i.d.R. nicht übernommen und kritisch bewertet
-Korrespondenten deutscher Leit-Medien reisen heute kaum noch ausführlich in ihren Berichtsgebieten. Massen- und serielle News-Produktion bestimmen den Journalisten-Alltag. Wo Reisen unterbleibt, prägen Exotismus und euro-zentrische Sichtweisen unverändert das Bild.
In den Worten von Charlotte Wiedemann, Autorin von „Vom Versuch, nicht weiss zu schreiben“: „Wie das diplomatische Korps die politischen und wirtschaftlichen Interessen Deutschlands vertritt, so sind Journalisten das Korps zur Verteidigung unserer Weltanschauung“
-Narrative abseits des Mainstreams sind selten. Kritische Federn spuckt das System regelmäßig aus, siehe Michael Lüders, Ulrich Tilgner. Ich selbst mache ähnliche Erfahrungen. z.B. mit den Ergebnissen einer jüngsten Recherche auf dem EU-Hotspot Lesbos und der prekären Situation von Menschenrechten dort: die mittlerweile auf den Ägäis-Inseln anzutreffende doppelte Migration – auch die einheimischen Griechen beginnen auszuwandern! – gelingt es nicht, etablierten Medien als Thema verständlich zu machen. Es dürfte nicht übertrieben sein, hier von einem Tabu zu reden, siehe dazu meinen Lesbos-Report
http://martingerner.de/lagebericht-lesbos-not-der-fluechtlinge-krise-der-einheimischen/
http://martingerner.de/3499-2/
-verbreiteter und negativer Einfluß von Parteien auf die Berichterstattung. Partei-Bücher sind ein bekanntes Gift in der deutschen Medienlandschaft. Gelegentlich relevant und anzutreffen bis auf Ebene der Redakteure. Die Folge: fragwürdige Beeinflussung, eingeschränkte Kritikfähigkeit. Beispiel: die wiederkehrende Zuordnung von Reportern bei der ARD für eine bestimmte Partei bei Minister-Reisen, auf Parteitagen, zu Konferenzen etc. Das frühere „System“ materieller Gefälligkeiten der Politik gegenüber den Medien besteht zwar nicht mehr, die Logik funktioniert aber unverändert: Auftrag (von der Politik) für Aufmerksamkeit (durch Berichterstattung) bzw. vice versa. Kern der Problematik ist insbesondere die sog. Hauptstadtblase Berlin, die Selbstkritik und Reflexion über fragwürdige journalistische Biotop verhindert. Verbreitetes Lobbytum/PR-Strategien tun ihr Übriges
-Journalismus, der Schwarz/Weiss-Malerei, Gewalt/Negativismus durch nuancierte Recherche und Fragestellung ersetzt, hat es hier zunehmend schwer

Empfehlungen und Anregungen

-deutliche Stärkung investigativer Recherche bezogen auf die o.g. Mankos und Diagnosen; Redaktionelle Investitionen statt Spar-Reflex insbesondere bei Langzeit- und Auslands-Recherchen
-mehr und notwendige Schulungen gerade für Journalisten von (Leit)Medien zu den Themen Flucht/Fluchtursachen, Islam/Religion, interkulturelle Sensibilität, Diskriminierung, Phänomene und Gefahren der gesellschaftlichen Radikalisierung
-Die Stimmen der Flüchtlinge und Zugewanderten stärker als eigenständige Personen mit ihren Identitäten, Qualifikationen und Narrativen, inklusive ihrer Sicht auf Deutschland, sichtbar machen
-Die wirtschaftlichen Leistungen von Migranten – aktueller, wie jender aus der ersten bis dritten Generation – stärker sichtbar machen und thematisieren
-Medienbeteiligung, Zugang und Informationsangebote von und für hier lebender Zuwanderer ausbauen;
Beispiel: es gibt freies, tägliches Bürgerradio in Köln als Medien
-Angebot für Einheimische und Migranten/Flüchtlinge. Der Sender und die Sendungen sind in der Öffentlichkeit allerdings wenig kommuniziert und bekannt
-grössere Rolle von qualifizierten Migranten als Autoren/Journalisten bei Sendern und Redaktionen
mit der Möglichkeit, positive Identifikationsmöglichkeiten unter Medienschaffenden sowie im öffentlichen Diskurs für den gesellschaftlichen Zusammenhalt herzustellen