Vor dem Zerfall? Saatskrise und Gefangeneaustausch in Afghanistan

Hier mein Kommentar im Deutschlandunk zur sich weiter verschärfenden Staats- und Regierungskrise in Afghanistan. Von ihrem Ausgang bzw. weiteren Verlauf hängt ganz entscheidend ab, ob die Roadmap für Frieden und Aussöhnung, wie von US-Regierung und Taliban erhofft, doch noch zustande kommen kann.

 

Auch in Afghanistan, mit seinem rudimentären Gesundheitssystem, kämpfen Menschen und Behörden täglich gegen das Corona-Virus. Politisch dramatischer ist aktuell aber die politische Krise in Kabul. Auch nachdem US-Regierung, EU und Vereinte Nationen dem amtierenden Präsident Ghani ihr Vertrauen ausgesprochen haben, unterlässt sein Gegenspieler Abdullah nichts, um das Funktionieren der Regierung zu behindern.

Seine Gründe für eine nachträgliche Korrektur des Wahlergebnisses mögen gut sein. Jetzt aber droht er als selbsternannter Gegenpräsident das politische System in ein Chaos zu stürzen. Im schlimmsten Fall droht die Gefahr, dass er mit seiner Allianz aus Ghani-Gegnern, darunter ehemaligen Warlords, das Land weiter spaltet und am Ende womöglich auch die afghanischen Streitkräfte. Wenn aber Afghanistans Armee nicht mehr auf einen Befehlshaber hört – droht ein neues Bürgerkriegsszenario.

Die US-Regierung will oder vermag nicht mehr zu schlichten, wie vor fünf Jahren noch. Vermutlich beides. Washington zieht vielmehr seine restlichen Truppen ab. America first heisst auch, Afghanistan erheblichen Risiken auszusetzen. Denn die Taliban tragen ihre Waffen noch, und haben ihre Helfershelfer in Pakistan und im Iran. Einen Waffenstillstand wollen sie erst am Ende von innerafghanischen Gesprächen schliessen.

Präsident Ghani verlangt dies parallel und in Schritten neben dem Gefangenen-Austausch von Taliban-Kämpfern, der diesen Samstag beginnen soll. Tatsächlich aber nehmen die Kämpfe wieder zu. Taliban dürfen aber nur freikommen, warnen Zivilgesellschaft und Frauenverbände, wenn sie keine Kriegsverbrechen oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen haben. Falls Ghani dies übergeht, wird er an Rückhalt verlieren.

Tatsächlich ist er längst ein Getriebener: Was immer Trump-Regierung und Taliban zusammen aushandeln – er sitzt nicht mit ihnen am Tisch. Geht er aber nicht ein auf die Roadmap zur Aussöhnung, verliert er weiter an Rückhalt – denn viele sind durchaus bereit, einen gewissen Preis für zu zahlen für Frieden. Wie hoch der sein wird am Ende, weiß keiner. Auch nicht, ob man den Taliban trauen kann. Und ob sie sich am Ende Wahlen und demokratischen Spielregeln fügen – oder doch die ganze Macht wollen.

Von Deutschland würde man sich ein klares Wort wünschen in all dem: an die Adresse Abdullahs etwa, seine Ambitionen hintenan zu stellen. Denn sollte das Staatsgefüge zerbrechen, wie es der Westen nach 2001 am Hindukusch mit aufgebaut hat – und die Gefahr droht – profitieren davon am Ehesten Taliban und andere Extremisten. Die USA schauen dann womöglich von außen zu. Und müssten gegebenenfalls erneut Truppen entsenden.