Flüchtlingsaufnahme & Corona: Im Zeichen der Abschottung

Wegen der Ereignisse offiziell abgesagt, hat sich eine kleine Gruppe von Aktivisten heute getroffen in St. Nikolaus in Köln-Sülz um den ökumenischen Gottesdienst Zu.Flucht über die Vorgänge im Mittelmeer und die Notlage auf den griechischen Ägäis-Inseln zu feiern. Hier ist meine Ansprache, die ich aus dem Anlass vor Ort gehalten habe. Parallel wurde meine Fotoausstsellung über Lesbos eröffnet, die bis zum 11. April offen steht, auch trotz Corona-Regime (siehe hier, hier, hier und hier)

1.600 Minderjährige, Kinder und junge Menschen wollen Deutschland und eine Reihe aufnahmebereiter EU-Staaten womöglich schon ab kommender Woche aufnehmen. Wegen des Notstands auf den EU-Hotspots auf Lesbos und in der Ägäis drohten ihnen dort unkalkulierbare Risiken für Leib und Leben.
Ein erster Erfolg des öffentlichen Drucks, den u.a. viele Hilfsorganisationen gemacht haben. Ein Zeichen auch, dass Politik darauf reagiert. Das kann aber nur ein erster Schritt sein. Zur aktuellen Lage kommen mir eine Reihe kritischer Gedanken in diesen bewegten Tagen:

Wie merkwürdig muss die Angst vor dem Corona-Virus einem Flüchtling aus dem Lager Moria vorkommen? Oder Einem aus den Lagern in Lybien, wo Flüchtlinge zu Häftlingen und Sklaven, Frauen zu Sex-Sklaven gemacht werden?
Wie merkwürdig, ja luxuriös muss diesen Menschen der Gedanke sein, aufgrund einer Zwangspause, die man nun wegen Corona von der Arbeit machen muss, für den Arbeitsausfall ersetzt zu bekommen?
Lassen sich die überwiegend mild verlaufenden Corona-Fälle mit den täglichen Ansteckungsgefahren in den Flüchtlingslagern vergleichen? Auf Moria herrschen Krätze, Diarrhö. Dort spielen Kinder zwischen Ratten, Exkrementen und Urin. Es fehlt an Duschen. Die Menschen leiden zum Teil Hunger. Unter den desaströsen hygienischen Bedingungen könnten jederzeit Masern, Meningitis oder Hepatitis ausbrechen, warnen Experten. Das Camp ist eine Schande für Europa. Hier verlieren die Menschen ihr Würde, ihre Selbstachtung und sie ruinieren ihre Gesundheit.

Und wir lassen es geschehen. Vor allem fallen in den Lagern Menschen in immer tiefere Depressionen und psychische Selbstzerstörung. Und beides, Depressionen und Selbstzerstörung sind – im Gegensatz zu Corona – kaum in Kürze heilbar. Ja sie verschlimmern sich: jeden Tag, auch und vor allem angesichts der Grenzen-Regime, die wir in Europa aufbauen. Und wir können es nicht verhindern.
Das Coronavirus hätte ein leichtes Spiel im Lager von Lesbos ansteckend zu sein. Ein Fall auf der Insel ist bereits registriert.

So bitter und tödlich sich dieser Virus verbreitet, er kommt, vielleicht, zu einem wichtigen Zeitpunkt. Um uns zu besinnen, um zu entschleunigen. Eine Pause im Turbo-Kapitalismus.
Zu besinnen, dass Bewahrung von Wohlstand Solidarität nicht ausschließen. Vielmehr, ist man geneigt zu sagen, macht unser Wohlstand Solidarität zur Pflicht. 
Uns zu besinnen, dass es ein Leben ohne Risiken nicht gibt. Hierin vor allem können wir von den Geflüchteten lernen. In dieser Hinsicht sind viel von ihnen, ohne es zu wissen, unsere Lehrmeister.


Lampedsa-Kreuz in St. Nikolaus zu Köln

Wir sollen unsere sozialen Kontakte einschränken, häuslich sein, vor dem heimischen PC aus solidarisch sein. Lässt sich das üben? Ist das kein Trick? Wo endet die Voraussicht? Wo fängt die Hysterie an? Wir haben viel zu verlieren. Alles geben tun immer nur jene, die nichts besitzen.
Ich habe es ein ums andere Mal erlebt. Es beschämt Einen. Auch das kann heilsam sein.

Die Menschen in Moria können sich vor Corona nicht zurückziehen ins Private, wie wir. Gibt es überhaupt einen Notplan für sie? Was ist, wenn in den Hotspots das Virus ausbricht? Oder in Idlib, in Syrien? Werden wir zuschauen? Oder etwas tun?

Zur Zeit dürfen die Helfer dort nicht mehr helfen. In Moria sind die Flüchtlinge jetzt noch häufiger auf sich selbst angewiesen. Für manche fühlt es sich an, wie auf einer Insel. Einer unbewohnten Insel, der man sie überlassen hat.
 
Versetzen wir uns in die Lage dieser Menschen: Was würden wir erwarten? Dass wir an einem Grenzübergang zwischen der Türkei und Griechenland beschossen werden? Oder dass man uns hilft, weil dieser Teil der Welt, Europa genannt, sich Rechtsstaatlichkeit und Humanität auf die Fahnen geschrieben hat? Das Recht auf Asyl ist ein Menschenrecht. Es wurde erkämpft, infolge von Krieg. Vor gar nicht langer Zeit. Es kann auch wieder verloren gehen. Dann nämlich, wenn man nicht mehr darum kämpft. Rien n’est jamais aquis! Nicht ist auf ewig garantiert – mahnt uns Joseph Rovan, der französische Historiker.

Deshalb: Was du nicht willst, das man dir tu – das füge auch keinem Anderen zu.
Daran lohnt sich zu erinnern, an einem Tag wie diesem. Die deutsche Vollkasko-Mentalität halten wir für unsere Errungenschaft. Sie ist unser stiller Stolz. Aber auch unser Schicksal. Sie macht uns zögerlich. Ja manchmal erstarren wir in all unserem Reichtum.
Bewegung in unser Leben bringt die Zuwanderung. Ohne sie würde Deutschland verarmen, das Sozialsystem bald kollabieren. Zuwanderung bringt also Chancen und Risiken, Freiheiten und Pflichten. Sie kostet unendliche Mühen – auf beiden Seiten. Aber nur durch sie sind wir geworden, was wir sind. Lassen wir uns nicht ins Boxhorn jagen: Identitäten im Plural sind gesund.

Wer Hilfe sagt, wer Seebrücke sagt – der sollte aber auch bedenken: Es gibt ein Recht auf Heimat. Kein Mensch flüchtet freiwillig, oder aus reiner Neugier. Es liegt immer eine Not zugrunde. Deshalb muss mit der Rettung die Bekämpfung von Fluchtursachen einhergehen. Die Einheimischen kennen diese Fluchtursachen besser als wir. Hören wir ihnen zu. Begeben wir uns auf Augenhöhe mit ihnen. Feiern wir mit ihnen im Alltag wie im Gottesdienst, nich für sie. Wagen wir es, ihnen mehr Verantwortung zu geben. Und zeigen so Solidarität. Damit unser Wunsch nach Integration sich mit Leben füllt. 
1.600 Minderjährige, Kinder und junge Menschen die Moria und die EU-Hotspots verlassen können am jetzt sind ein Anfang. Ein erster Erfolg. Jetzt gilt es, nicht nachzulassen.