Georgien: Sterben und Protest auf dem ‚Balkon Europas‘

Georgien wird im Oktober das Gastland der Frankfurter Buchmesse sein. Und schon jetzt befinden wir uns im „georgischen Jahr“, mit dem Deutschland zweihundert Jahre offizielle Beziehungen zwischen Tiflis und Berlin feiert. Auch aus anderen Gründen aber müssen uns die gestrigen Proteste in Tbilissi und das Sterben in diesem christlichen Kernland auf dem Kaukasus interessieren.

Als Augenzeuge der Proteste, als Reisender und Medienvertreter aus dem Westen, verstärkt sich dabei der Eindruck von einer europäischen „Entwicklungshilfe“ in Sachen Demokratie, die als äußerst ambivalent von den Menschen hier empfunden wird und die dabei ist, wirtschaftliche Oligarchien und gesellschaftliche Eliten in Georgien zu privilegieren zum Nachteil einer darbenden Mehrheit.

Gestorben sind diese Woche hier fünf Bergarbeiter, denen der Trauerzug der Demonstranten in Tiflis galt. Eine Kohle-Schacht in Tkibuli, vier Autostunden von Tiflis, war eingestürzt und hatte die Knappen unter sich begraben. Ein weiterer starb in einer der weltweit grössten und ältesten Mangan-Minen in Chiatura, einem weiteren Zentrum der abenteuerlich veralteten georgischen Bergbau-Industrie.
 Ein US-amerikanisches Unternehmen hat hier mittlerweile das Sagen. Die Arbeitsbedingungen haben sich mit Ende des Sozialismus offenbar allerdings nur marginal verändert. So ist der Tod mehrerer Bergarbeiter binnen einer Woche eine ebenso außergewöhnliche wie normale Begebenheit in Georgien, sagen die Menschen mit Blick auf die Statistik. Fast 1.000 Opfer sind in den letzten Jahren zu beklagen.

Jedes Jahr sterben Hunderte in Minen und Gruben des Landes, ohne dass sich die Sicherheitsstandards und Arbeitsbedingungen signifikant verändert hätten. Arbeit unter Tage ohne Helm und Atemschutzmaske, zu Hungerlöhnen und ohne Arbeitsvertrag, gehören zum Alltag, so die Demonstranten, die zum Gedenken an die Opfer der letzten Tage auf die Strasse gegangen sind. 
Es sind, wie schon im vergangenen Jahr, Gruppen organisierter Studenten, Intellektuelle sowie Organisationen der georgischen Zivilgesellschaft, die hier zusammenkommen.
(ausführlicher Hintergrund zur jüngsten Geschichte der studentischen und zivilen Gesellschaftsbewegungen in Georgien hier)

Dass die georgische Fahne für die Opfer offiziell auf Halbmast wehte gestern, maskiert dabei nur den tatsächlichen Konflikt: Denn Gesellschaft und Ökonomie gehen in Georgien schon seit mehr als zehn Jahren durch eine Phase neoliberaler Wirtschaft, die sich anfühlt wie blanker Manchester-Kapitalismus. Dass dabei nicht nur Bergarbeiter auf der Strecke bleiben, sondern auch bettelnde Rentner das Stadt- und Strassenbild prägen, dass Schul- und Uni-Abgänger keine Arbeit finden, Drogenkonsum und Kriminalität anwachsen, ist vielfach beschrieben und kritisiert worden. 
Zunehmend thematisieren dies nun auch georgische Schriftsteller und Autoren, deren Arbeiten im Zuge der Frankfurter Buchmesse ins Deutsche übersetzt werden. Einer der Autoren, der bei einem der grössten Verlage des Landes publiziert wird, gehörte gestern mit zu den vorrübergehend Verhafteten. „Rowdytum und Ungehorsam“, so der offizielle Vorwurf.

Man darf sich von solchen Vorfälen, im besten Fall, etwas mehr Aufmerksamkeit für Georgien erwarten, das sich selbst gerne den „Balkon Europas“ nennt, und das an der Nahtstelle zum Russland von Vladimir Putin eine Art Frontstaat in dem neu ausgebrochenen kalten Konflikt/Krieg mit Moskau geworden ist.
 Dass ein Teil der Demonstranten die neuen Oligarchen in Georgien verdächtigt, dabei auch noch wirtschaftliche Geschäfte mit dem politischen Gegenüber zu machen, kompliziert die Sache. Angesichts von grassierender Arbeitslosigkeit, eines fehlenden Sozialsystems nach westlichem Vorbild und einer – glaubt man georgischen Auguren wie der bekannten Schriftstellerin Neira Gelaschwili – heraufziehenden ökologischen Katastrophe (aufgrund von rücksichtslosen Ausbeutung von Rohstoffen, Natur und Wasservorkommen im Land) wäre eigentlich die EU gefragt, das laufende Assoziierungsverfahren mit Tiflis mit neuem Leben zu füllen. Aber man zögert. Die Mission ist politisch heikel, nicht zuletzt wegen der Nachbarschaft zu Rußland und der beiden faktisch unter Moskaus Einfluss stehenen ehedem georgischen Territorien Südossetien und Abchasien.

Im Schlimmsten Fall droht dabei die anfängliche Zuneigung der Georgier zu Europa in ihr Gegetneil umzuschlagen.
Zuletzt haben jeden Monat Hunderte von Arbeits- und Armuts-Migranten aus Georgien ihren Weg nach Deutschland und in die EU gefunden, unter Ausnutzung der Visa-Freiheit, die seit dem vergangenem Jahr gilt. Nun droht das Europa der 28 dem Kaukasus-Staat als Retour-Kutsche dafür, die Tür vor der Nase zuzuschlagen.

Die rund 400 Demonstranten – die sich gestern in den Strassen von Tiflis für den Trauerzug versammelt hatten, der dann mit einer kurzzeitigen Sitzblockade eskalierte und die Poliezi auf den Plan rief, inklusive einiger weniger Festnahmen – haben das selbsterklärte Ziel, sich mit den Arbeitern der Kohle- und Mangan-Reviere aus dem georgischen Zentralland zu solidarisieren und eine Art gemeinsame Front sozialen Bewußtseins und Handels gegen die herrschende Politik und ihren Wirtschaftskurs aufzubauen. Bei den Beerdigungen der Bergarbeiter sind Gruppen verschiedener sozialer Bewegungen mittlerweile regelmäßig zugegen.

Diese Strategie mag wie eine Vorlage historischer Beispiele wirken, aus West wie Ost. Für ein Land wie Georgien zwischen wirtschaftlichem Kollaps und rapider Modernisierung sind Versuche der außerparlamentarischer Opposition wie diese so wichtig wie fragil. Eine echte Mittelschicht gibt es nicht. Was in Georgien zur Zeit aber unübersehbar fehlt angesichts der grassierenden sozialen Not, sind Mittler und Vermittler, die gesellschaftlichen Wandel und Ausgleich sowie ein Geben und Nehmen glaubhaft verkörpern. Denn dies ist unter die Räder gekommen, bzw. es konnte nie zum Leben erweckt werden bislang als Folge des abrupten Wandels vom Kommunismus zur neuen Marktwirtschaft. So produziert Georgien, seit der rosenen Revolution 2003, zunehmend Arm-Reich-Gegensätze, die die georgische Gesellschaft kaum verdauen kann. Das Märchen von den blühenden Landschaften bleibt derweil hier nur einigen wenigen vorbehalten. Die gestern Festgenommenen sind übrigens, auch das ist wenig überraschend, alle nach der Wende von 1989/90 geboren.