Balkanroute 2017: Vom Transit zum Trauma


-In Ungarn gelten ab heute verschärfte Regeln im Umgang mit Flüchtlingen. Diese werden in Container-Ansammlungen entlang der Grenze interniert und in sogenannten Transitzonen festgehalten bis über ihren Antrag auf Asyl entschieden ist. Menschenrechtler kritisieren dies als mit europäischem wie internationalen Recht nicht vereinbar


-Ein Jahr nach dem EU-Türkei-Deal sitzen weiterhin Tausende auf der Balkan-Route fest; nachdem  Ungarn vielerorts bereits einen doppelten Grenzzaun errichtet hat und nur noch bis zu 10 Personen täglich einreisen lässt, stauen sich immer mehr Flüchtlinge in Serbien, wo sich zur Zeit rund 8.000 Menschen aufhalten


-In Serbien warten vor allem Familien und Alleinstehende aus Afghanistan und Pakistan, Syrien und Irak auf Weiterreise in die EU, oft unter erbärmlichen Lebensverhältnissen und ohne ausreichenden Zugang zu Wasser, Nahrung, einem Bett und ausreichender Gesundheitsversorgung


-Das Dilemma: mit der faktischen Schließung der Grenze zu Ungarn ist Serbien kein Transitland Serbien mehr und drängt die EU zu einer Lösung. Ungarn und Kroatien scheinen die Balkanroute allerdings um jeden Preis dicht halten zu wollen. Die Folge könnten neue Konflikte in Serbien sein, wo bisher keinerlei Integration für Flüchtlingen vorgesehen ist, auch von EU-Seite nicht.


-Die Flüchtlinge drohen deshalb erneut mit den Füssen abzustimmen. Sie könnten dabei neue Routen nehmen, über Bosnien-Herzegowina etwa. Der Balkan und Europas Stabilität stünden vor einer neuen Belastungsprobe


-Ein Schandfleck für die Menschenrechte in Europa sind vor allem die drei Lagerhallen in Serbien, am Belgrader Busbahnhof, wo Hunderte alleinstehende Flüchtlinge vor allem aus Afghanistan und Pakistan auf sich alleingestellt leben. Es gibt dort keine ausreichende gesundheitliche und soziale Betreuung. Zudem drohen Krankheiten und Epidemien unkontrolliert auszubrechen. Das Ausmass an Depressionen unter den jungen Menschen hat besorgniserregende Ausmaße angenommen, 
so Kernergebnisse meiner jüngsten Recherchereise für den Deutschlandfunk auf dem Balkan




Die drei Lagerhallen am Belgrader Busbahnhof sind das sichtbarste Zeichen des Versagens europäischer Flüchtlingshilfe in Serbien und auf dieser Balkan-Route. Mitten im Zentrum der Millionen-Metropole, eingepfercht zwischen post-modernen Hotel-Neubauten und dem Betrieb des städtischen Schienen-Verkehrs packt einen sprichwörtlich die Dunkelheit, wenn man die Lagerhallen betritt: das Tageslicht ist selbst bei Sonne so schwach, dass man kaum ein Blatt Papier vor den Augen erkennt. Während sich die Augen tastend an diese Nacht-bei-Tage-Verhältnisse gewöhnen, verätzen Gerüche von Verbranntem und Moderndem einem die Atemwege. In ihrer Not und um sich zu wärmen verbrennen junge Männer mit kindlichen Gesichtern förmlich alles, was sie draussen vor den Hallen finden können: Plastik-Kisten, Styropor, ganze Planken von Bahngleisen, die sie am Rande der Hallen finden.

Der 26-jährige Habib aus Afghanistan beschreibt, mit welchen Folgen: „Das Holz der Bahnplanken, die hier bis vor kurzem in grösserer Zahl herumlagen, ist oft voll von Industrie-Ölen. Die jungen Menschen hier haben diese Industrie-Öle nicht nur eingeatmet, wenn sie im Winter bei Minus 10 Grad in der Hallen ein Feuer an ihrer Matratze entzündet haben um zu überleben. Das Verbrennen der Bahnplanken hat auch ihre Haut für immer verändert. Unlängst fragte ich einen der jungen Männer hier, warum er sich nicht gewaschen habe. Sein Gesicht war gräulich unter den Augen. Er sagt doch, er habe sich gewaschen. Dann erzählte er von den Bahnplanken über dem Feuer, das tagelang an seinem Bett gelodert habe. Mir wurde klar, dass seine Haut die vielen Schadstoffe der Industrie-Öle aufgesogen hat, die in den Planken gesteckt haben.“

Wenige Meter davon, im Freien, waschen sich andere Männer zwischen versickernden Abwässern und Müll, der mit den Abwässern am Boden mäandert und sich ein Weg zwischen zerbrochenen Ziegelsteinen sucht. Mit einem Plastikbecher schürfen die jungen Männer etwas Wasser aus einer verbogenen, bräunlich verrosteten Stahltonne. Einige sind barfuß. Andere ohne Handtuch.
Im Hintergrund der Hochhaus-Neubau einer internationalen Hotelkette, die hier bald ein neues Industrieviertel an der Save schmücken wird. Es sind Bilder von menschlicher Not, wie man sie sonst aus Bangladesh kennt. Hier in Belgrad, im Herzen von Europa, haben einige Meter weiter zwar einige lokale und internationale Helfer ein Dutzend Dusch-Kabinen aufgestellt. Aber es sind bei Weitem zu wenige, wie man mit blossen Auge erkennen kann. Und das Duschen kostet etwas, bemerken die Flüchtlinge.

Einige der Gesichter stehen Stunden später in Schlange an, als zwischen den Lagerhallen, wie jeden Tag, aus einer fahrbaren Kombüse, Mittagessen ausgegeben wird.
Im November letzten Jahres war sogar dies, die Essensausgabe an Flüchtlinge in Belgrad, zum Zankapfel geworden. Die serbischen Behörden, bewußt über den Image-Verlust, den jeder Tag mit den Flüchtlingen in den Lagerhallen der Reputation Belgrads national wie international mit sich bringt, hatten  vorgeschlagen, die Essens-Rationen ganz einzustellen, in der Hoffnung, dass sich die Flüchtlinge so aus dem Zentrum und auf andere Orte in Richtung EU-Grenzen verteilen würden. Verhindern konnten das Belgrader Flüchtlings- und Menschenrechts-Initiativen, darunter die Begründer des Miksaliste-Hauses und der Info-Park-Initiative, die hier die Werte und Prinzipien nicht nur europäischen Rechts sondern auch standardisierter Menschlichkeit hochhielten.

In den Lagerhallen im Zentrum von Belgrad halten sich nur Männer auf. Zur Zeit sind es mehrere Hundert. Im ausgehenden Winter, über die vergangenen Monate waren es weit mehr als 1.000 (vgl. die internationalen Medienberichte hier). Die serbischen Behörden versuchen die Alleinstehenden jetzt davon zu überreden in Not- und Übergangslager umzuziehen, wo ihre Alltag geregelter wäre, und weniger gefährlich, die Nacht im Kalten zu überstehen. Einige haben sich mittlerweile dazu bewegen lassen offenbra, resigniert womöglich auch, dass es aus Serbien so schnell kein Fortkommen für sie gibt. Andere weigern sich unverändert, den Schritt zu tun. Sie fürchten von ihrer Gruppe aus gleichaltrigen Weggefährten in den Hallen getrennt zu werden. In all der Not, der Kälte und dem sprachlichen Nirvana Jemanden an seiner Seite zu haben ist mittlerweile wie eine emotionale Nabelschnur für das Überleben vieler. Die Flüchtlinge verstehen in Belgrad kein Wort Serbisch. Umgekehrt fehlt es selbst serbischen Hilfsorganisationen chronisch an Übersetzern für Persisch, Pashto oder Urdu.

Das Einzige, was Helfer und Flüchtlinge, tief im Inneren, zu verbinden scheint an diesem Ort, ist die Hoffnung auf Transit. Denn Serbien ist Transitland, seit die Flüchtlingsfrage Europa 2015 in massiver Form aufgesucht hat. Daran halten die Serben im Glauben fest, staatliche Behörden wie unabhängige Helfer.

Und die Flüchtlinge? Sie versuchen sich mit allen Kräften dagegenzustemmen, dass ihr Traum von mehr Sicherheit für ihre Kinder und einem besseren Leben ausgerechnet hier in Europa endet. Viele sind über das EU-Land Bulgarien und über die grüne Grenze genommen, und aufgrund zunehmend ausländerfeindlicher Anfeindungen, die sie dort erlebt haben, wie viele lebhaft berichten. Andere kommen über die Mazedonische Grenze. In Belgrad, dessen Strassenbild tief geprägt ist von den neo-romantischen Resten eines verfallenden Tito-Sozialismus, liegt der Durchschnittsverdienst bei 250-350 Euro umgerechnet im Monat. Zu wenig, finden die Flüchtlinge unisono, um hier eine Zukunft aufzubauen, selbst wenn es von hier kein schnelles ‚Weiter‘ gäbe.

Subotica – Ungarische Grenze

Die serbische Grenzstadt Subotica steht in diesen Tagen als Symbol für den Flüchtlingsstau auf der Balkan-Route in Richtung Ungarn. Der Grenzübergang Horgos, etwas außerhalb der Stadt, ist eines von zwei Nadelöhren entlang der über 110 Kilometer langen Grenze mit Ungarn. Auf serbischer Seite stauen sich hier kilometerlang Lastwagen für den Transit nach Ungarn. Die Abfertigung der Waren wie auch eines kleinen Auto-Grenzverkehrs nach Ungarn und zurück vollzieht sich entlang eines Abschnitts aus flachen Grenzhäusern, Schlagbäumen und metallenen Grenztoren, die an das erinnern, was Ältere von uns aus Westeuropa aus der Zeit vor der Visa-Freiheit im Schengen-Raum kennen.

Wenige hundert Meter davon, entlang des metallenen Stacheldraht-Zauns, nur einen Steinwurf von der Autobahn entfernt, dann eine Art Noman’s-Land auf auf serbischer Seite, daas erfahrbar macht, um was es auf der Balkan-Route für die Flüchtlinge geht, nämlich um das Recht dieser Menschen, überhaupt Rechte zu haben.

Ein halbes Dutzend Zelte stehen dort, mit eingefallenen Planen, wie verlassen, inmitten einer kleinen Brache zwischen Sträuchern und Stacheldraht, gestützt von abgebrochenen Baumstämmen der umstehenden Vegetation. Nur ein helles, beiges Zelt ragt heraus, ein Rot-Kreuz-Zelt, das ‚Minderjährigen‘ vorbehalten ist, erzählen die Männer, die hier nächtigen.

Auch hier alles junge Erwachsene, womöglich der ein oder andere Minderjährige. Bei kühlen Abendtemperaturen kauern sie in ihren dunklen Zelten. Vermummt in Jacken starren sie aus ihren Iglo-artigen Reisezelten, die sie im Inneren der grösseren Zelte nochmal aufgeschlagen haben.  
Drei stammen aus Afghanistan, wie ich dem persischen Akzent entnehmen kann, zwei geben an aus Nepal zu kommen, einer aus Bangladesh, ein weiterer aus Iran. Auf eine weitere Klein-Familie warten sie noch, so einer von ihnen, der sich den Camp-Leiter nennt.

Für Familien und Mütter mit Kindern werden in einem Dutzend serbischen Übergangslagern Listen geführten, mit der Absicht die Überführung nach Ungarn nach Recht und Ordnung zu gestalten. Ein Teil der Flüchtlinge befürchtet allerdings, dass durch Korruption und individuelle Abmachungen mit den Behörden sich einige einen Vorteil verschafften und es auf den Listen nicht gerecht zugehe.
In mehreren Lagern ist es deshalb jüngst zu Protesten gekommen.

In Subotica ist dies für mich ein merkwürdiger Vorabend für einen Menschen-Austausch mitten in Europa. Am ungarischen Grenzzaun hängt ein Zettel mit englischer Aufschrift: „Wegen ungarischen Feiertags morgen geschlossen“. Deutlicher können die ungarischen Grenzer kaum zeigen, wie wenig sie die weltweite Kritik an ihrem verschärften Grenz-Regime tangiert.

Direkt am Stacheldraht-Grenzzaun, erst auf serbischer Seite, dann auf ungarischer, läuft täglich morgens gegen 8 Uhr folgende etwa einstündige Prozedur ab, juristisch wie politisch ebenso fragwürdig wie umstritten, die auf der sogenannten Transit-Zone auf ungarischer Seite endet. 
Dabei übergeben die serbischen Grenzer ihren ungarischen Pendants bis zu 10 Flüchtlinge, die in dort aufgestellten blauen Containern verschwinden. Von diesen Containern muss es entlang des Grenzzauns noch einige weitere geben, denn es heisst die Flüchtlinge fristeten hier bis zu vier Wochen, wie in einer Art Quarantäne.

Dazu passt der neuen Gesetzentwurf, den das ungarische Parlament Anfang März 2017 verabschiedet hat und der die ausnahmslose Inhaftierung von Schutzsuchenden in Ungarn festschreibt. „Flüchtlinge, die nach Ungarn gelangen, sollen in den seit September 2015 bestehenden Transitzonen inhaftiert werden, während der gesamten Dauer ihres Asylverfahrens“, heisst es u.a. bei Pro Asyl. Dies gelte auch für unbegleitete Minderjährige ab 14 Jahren. „Selbst bereits im Land lebende Flüchtlinge sollen in Containercamps entlang der südlichen Grenzen Ungarns interniert werden, die mit Stacheldraht gesichert werden.“

Ab heute gelten in Ungarn verschärfte Regeln im Umgang mit Flüchtlingen, die das Parlament Anfang März beschlossen hatte. Danach werden Asylbewerber in sogenannten Transitzonen entlang  des Stacheldrahtzauns und innerhalb eines acht Kilometer breiten Grenzstreifens festgehalten, bis endgültig über ihren Antrag entschieden ist. Grenzschutz und Polizei sind für diese Zwecke gleichermaßen kompromisslos ausgerüstet mit Schlagstöcken und scharfer Munition, um die Regelungen umzusetzen. Neben den blauen Containern unmittelbar am Grenzübergang in Horgos, wo die von Serbien übergebenen Flüchtlinge unmittelbar in diese Form von ungarischer Asyl-Haft übernommen werden, sind grenznah weitere Container-Ansammlungen aufgestellt worden, mit dem Ziel, dass die Bevölkerung die Flüchtlinge möglichst nicht zu Gesicht bekommt.
Amir, besagter Camp-Leiter, hat von all dem vage gehört, wie er andeutet. Die neue Entwicklung ängstigt ihn. Aber nicht entscheidend. Denn das ist noch die Hoffnung auf das Schengen-Land, das Ungarn nach wie vor auch ist, und das für viele der Flüchtlinge wie ein imaginärer Rettungsanker am Ende ihrer Reise-Ziele steht.
Amir ist ohne Familienangehörige in Horgos. Die hat er in Sid, kurz vor der serbisch-kroatischen Grenze zurückgelassen. Als inoffizieller Camp-Leiter von Horgos macht er sich jetzt Hoffnungen, dass er es hier schneller nach Ungarn schafft. „Für uns, die wir hier unter den Flüchtlingen mitorganisieren und aufpassen, kann es nach einem Monat dafür eine Belohnung geben. In der Form, dass die ungarischen Behörden uns Alleinstehende zum Dank rüberlassen. Das war so bei einigen meiner Vorgänger. Aber jetzt habe ich gehört, dass die Ungarn auch diese Regelung wieder in Frage stellen wollen. Das wäre nicht gut für mich.“

Die rechtskonservative ungarische Regierungspartei Fidesz von Victor Orban kann auf ihrem Grenzgebiet auf Bürgermeister der rechtsextremen Jobbik-Partei rechnen, erzählen mir serbische Flüchtlingshelfer. Aber auch auf serbischer Seite, so die Helfer, hier im Norden mit der ungarischen Minderheit in Serbien, käme der Kurs Victor Orbans, der Migration bekanntlich für »das trojanische Pferd des Terrorismus« hält, gut an.

Das verschärfte ungarische Grenzgesetz hat sich bei den Flüchtlingen in Serbien mittlerweile herumgesprochen. „Wir sind alle in Angst um unsere Unversehrtheit und Zukunft“, erzählt eine Gruppe von Vätern und Müttern im Flüchtlingslager Krnjaca bei Belgrad. „Werden wir jetzt wie Terroristen behandelt und warum?“, möchte einer von ihnen wissen. Zugleich – und das ist die doppelte Tragik dieser Tage – drängt es die meisten Flüchtlinge über eben diese Grenze bei Ungarn, die ihnen so viel Kopfzerbrechen bereitet. Denn Ungarn ist Schengen-Land und ermöglicht damit – zumindest auf dem Papier – den einfacheren Transit in Länder wie Deutschland oder Frankreich (im Vergleich zu Kroatien), wohin die meisten der Migranten, die mittlerweile schon bis zu zwei Jahren auf der Flucht sind, sich sehnen.

Gut möglich ist, dass für viele der 7.-8.000 Flüchtlinge in Serbien der Weg erst einmal an der ungarischen Grenzet endet. Im Gespräch mit mir erwähnt Bruno Rotival, der zuständige Leiter der humanitären ECHO-Mission der EU in Belgrad, Wartezeiten von ein bis zwei Jahren für die Betroffenen ab jetzt, bevor mit einer Umsiedlung in ein EU- oder Drittland zu rechnen sei.

Dies wäre für beide – Flüchtlinge wie serbische Seite – das Ende des Transit-Traums Serbien. Womöglich droht ein böses Erwachen für beide, vom Traum hin zum Trauma. Denn spätestens dann bräuchte Serbien – das finanziell bisher zu fast 100 Prozent in seinen Anstrengungen für Flüchtlinge von der EU und einer Reihe internationaler Hilfsorganisationen abhängt – eine eigene Integrationspolitik, die die Menschen nicht als Verschiebe-Bahnhof von einem EU-Land in das nächste betrachtet.

Ohne Frage hat die EU Serbien in diesem Transit-Narrativ bestärkt. Dieser scheint allerdings zum Scheitern verurteilt, solange Ungarn und Kroatien nicht den Weg für grössere Kontingente wieder frei machen. Eine Konsequenz könnte sein, dass Flüchtlinge in Serbien auf diesem Abschnitt der Balkan-Route mit dem beginnenden Frühjahr wieder anfangen mit den Füssen abzustimmen,
mutmaßt Zoran Ikonic, Germanist und Journalist in Belgrad. „Es ist möglich, dass ein Teil der Flüchtlinge dann einen Ausweg über Bosnien-Herzegowina und an die unkontrollierte Grenze dort suchen, hinein nach Europa.“ Dies würde neues Leid über die Menschen bringen und die EU-Flüchtlingspolitik einer neuen, ungekannten Belastungsprobe aussetzen.

Die Flüchtlinge in Serbien selbst sind von all dem sichtlich verunsichert, ja zum Teil in Panik, in dem was mittlerweile Europas grösste Wartehalle geworden ist. Psychisch befinden sich viele in einer Welt selbstgezogener Grenzen. Dem serbischen Staat vertrauen sie nicht mehr. In ihrem selbst gesteckten Schutz-Cocoon sind sie kaum aufnahmebereit für die sich verändernden Flüchtlingsrealitäten auch in Deutschland und dem Rest der EU. Zugleich wachsen bei ihnen Frust und Scham. Etwa sich einzugestehen, dass sie zur falschen Zeit am falschen Ort ihrer Sehnsüchte angelangt sind. Über eine Rückkehr in ihr Heimatland denken einige nach. Ernsthaft erwägen scheinen es die Wenigsten. Zu schmerzhaft erscheint das Eingeständnis der Niederlage. Und noch lebt ganz offenbar eine Hoffnung, das europäische Menschen, Instanzen und Prinzipien ihnen zu einem würdigeren Ort verhelfen, als es Belgrad und Subotica in diesen Tagen sind.

Offiziellen Schätzungen zufolge drängen täglich neue 50-100 Menschen aus Bulgarien und Mazedonien nach Serbien. Pro Jahr wären dies zwischen 18.000 und 36.000 Flüchtlingen.
Sie könnten, wenn der gordische Knoten an der serbisch-ungarischen Grenze nicht durchtrennt wird, zu einer erheblichen Belastung für das Land werden.

Noch nämlich herrscht zwischen Einheimischen und Fremden eine Art friedliches Desinteresse, oder eine desinteressierter Frieden. Weil Serbien Transitland ist, sind die Flüchtlinge aus Sicht der Einheimischen nur vorübergehend Nachbarn. Die momentane Verunsicherung hat also ein absehbares Ende. Auch kostet die Flüchtlingshilfe die serbischen Bürger keinen einzigen Dinar – das jedenfalls vermittelt die Regierung in Belgrad ihren Bürgern im Vertrauen auf EU-Gelder und -politik. Dem Vernehmen nach hat es in Serbien noch keinerlei nennenswerten rassistische Übergriffe und populistische Tiraden gegenüber den Flüchtlingen gegeben. Auch die Flüchtlinge scheinen umgekehrt im Land noch nicht negativ aufgefallen zu sein – bezeugen mir meine Gesprächspartner.

Aber wie lang hält dieser Frieden? Dass angesichts des europaweiten Trends zu Populismus und Abgrenzung gegenüber Flüchtlingen Serbien langfristig eine Ausnahme von der Regel bleibt, erscheint wenig wahrscheinlich. Zwar sind eigene Erfahrungen von Flucht und Hilfe aus dem Balkan-Krieg vor zwanzig Jahren bei vielen präsent und einige engagieren sich gerade deshalb heute für Flüchtlings aus Nahost, Asien und Afrika. Ob aber die persönliche Erfahrung des Balkan-Kriegs eine homophobe Einstellung grundsätzlich lindert? Auch angesichts der ausgeprägten serbischen Wirtschaftskrise dürfte das materielle Interesse den Meisten näher liegen als persönliches Engagement für Dritte. Viele Serben deuten deshalb auch auf uns, die EU-Europäer, ob eines Problems, für das sie vor allem die Europäische Union verantwortlich machen, nicht ganz zu Unrecht. „Es geht um Menschen, die aus der EU weiter in die EU wollen. Und wir, Serben, befinden uns dazwischen.“

Nein, ihre Schuld ist es diesmal wahrlich nicht. Man darf gespannt sein, wie lange die EU-Kommissare und -Politiker in Brüssel und den west-europäischen Hauptstädten dem Treiben am ungarischen Grenzzaun noch zuschauen. Eine Überprüfung, ob Ungarns Grenzpolitik noch mit dem Völkerrecht vereinbar ist, wie auch die Einstellung aller Dublin-Abschiebungen nach Ungarn, scheinen jedenfalls dringend geboten, wenn das gemeinsame Projekt Europa nicht noch weitere Blessuren davontragen soll. Sonst passiert womöglich am Ende sogar, was ein langjähriger Beobachter in diesen Tagen düster prognostiziert. Europa sei vor zwei Jahrzehnten ausgezogen, den Balkan zu europäisieren. Jetzt erlebten wir das Umgekehrte: Europa sei dabei, sich zu balkanisieren.