Leave no one behind: Afghanistan-Abzug mit Risiko

Jetzt steht es fest, und kommt so erwartet wie es neue Fragen aufwirft:
Die USA und damit auch die NATO und Deutschland wollen sich bis Anfang Dezember aus Afghanistan zurückziehen. Hier ist meine Einschätzung dazu heute auf
Radio Bremen Zwei / Der Tag 20.04.2021 (mit freundlicher Genehmigung des Senders)

 

Einmal mehr ergibt sich daraus eine neue, schwierige Gemengelage:



-Muss die Freiheit nach 20 Jahren am Hindukush noch bzw. nicht weiter verteidigt werden?

Die NATO versteht sich seit geraumer Zeit als Bündnis mit globaler Verantwortung. Im Fall von Afghanistan hat es sich erheblich übernommen. Materiell, politisch wie moralisch. Mit dem Abzug: ziehen USA und Europäer gewissermaßen die Lehren daraus. Was hilft und intendiert ist, viele Steuergelder einzusparen, wird bittere und ggf. sogar fatal Folgen für die Menschen in Afghanistan haben: denn es drohen allerlei Rückschritte. Bei den Menschenrechten u.a. Neue Waffengänge nicht ausgeschlossen.



-War alles umsonst?
Ich neige nicht zu fatalistischen Narrativen, die gerne ausgegraben werden im Fall von Afghanistan.
Die afghanische Gesellschaft ist besser gerüstet gegen Macht-Versuchungen und -drohungen der Taliban als 1994. Geschicht am Hindukusch wird sich nicht wiederholen. Es werden keine Buddha-Statuen fallen. Politik und Zivilgesellschaft werden nicht zur Schlachtbank gehen. Ein Risiko liegt in der Versuchung, dass im Doha-Prozess bzw. bei der anstehenden Instanbul-Konferenz – sofern die Taliban dort anwesend sein werden – aktive Warlords oder powerbroker mögliche Deals abschließen, um weiter an der Macht zu bleiben. Die Zivilgesellschaft ist kaum am Tisch vertreten dort. Das erneuerte Mißtrauen daraus könnte vielfache negative Folgen daraus haben, bis hin zu einem weiteren Exodus. Wenn es umgekehrt gelingt, die afghanische Zivilgesellschaft und die wesentichen Akteure mit einzubeziehen, zugleich den Taliban die Logik von demokratischen Prozessen verständlich zu machen, in denen auch für sie Platz sein kann, und wenn ein (überprübarer) Waffenstillstand sich zeitnah einstellt – kann das Mißtrauen, mit ein wenig Glück, in Vertrauen verwandelt werden. Viele ‚wenn’s‘ aber, zugegeben.
In jedem Fall kümmern sich die USA und die NATO nicht so um die inner-afghanischen Gespräche, wie sie es eigentlich könnten und müssten. Diese Gespräche dauern bereits lange und werden weitere Zeit in Anspruch nehmen. 
Und es braucht dringend unabhängige Dritte die hier vermitteln. Am Besten das Konzert der internationalen Vermittler zusammen. Je vereinter Groß- und Mittelmächte hier auftreten, desto geringer die Gefahr, dass sie mit negativen Absichten in das neue sich anbahnende afghanische Vakuum vorstossen.

Was hat der Einsatz gebracht?

Eine sehr ambivalente Bilanz. 
Einerseits einen enormen Modernisierungsschub für Land: Strassen-, Kommunikation-, Gesundheits-, Presse- und zivilgesellschaftliche-Netze haben sich im regionalen Kontext rasant entwickelt. Zugleich hat sich infolge von Milliarden an Hilfsgeldern die Korruption vervielfacht. Bestehende afghanische Eliten wurden so gestärkt, sog. Warlords und/oder Powerbroker allen voran. Die Hilfsgelder haben auch neue politische und ökonomische Eliten produziert. Beide sitzen heute oft in Dubai, auf Geldkoffern und warten auf den Zeitpunkt, in Afghanistan zu investieren oder zurückzukehren. Auch unter westlichen Akteuren hat in diesen Jahren die Korruption zugenommen
.
Sichtbar schon seit langem ist daneben der militärische Offenbarungseid.
 Aufstandsbekämpfung zu keinem Zeitpunkt so funktioniert, wie der Westen und die Nato sich das gedacht hatten. Bis heute fehlt klarer Plan, über Umfang und Ziel der Mission bzw. wann diese beendet ist. Wenn es jetzt heisst (Biden-Regierung), man habe dieses Zeil längst erreicht, belegt dies nur einmal mehr, dass viele Kompasse in den letzten Jahren versagt haben.
Zu lange und immer wieder wurde zwischen Terror-Bekämpfg und Nation-Buildung laviert. Anfangs wurden viele Kräfte und Aufmerksamkeit für den Irak abgezogen. Viel zu spät hat man mit dem Aufbau schlagkräftiger afghanischer Sicherheitskräfte angefangen. Hinzu kommt: als Folge ziviler Opfer in der afghan Bevölkerung durch Luft- und andere Bombardements haben sich Teile der Afghanen immer mehr von den anfänglichen Sympathien für die westliche Intervention entfremdet.
 Es war falsch, dem Militär ein faktisches Mandat für den zivilen Wiederaufbau auszustellen, es also beim Bau von Schulen, Krankenhäusern etc. wesentlich mitbestimmen zu lassen.
Umso grösser wurde das militärische wie ökonomische Vakuum beim Abzug 2014 bereits. In kleinerem Ausmaß aber mit erneuten wirtschaftlichen Schockwellen für die Einheimischen wird sich dies in 2021 wiederholen.

-Werden zivile deutsche Helfer nach dem Abzug der Bundeswehr im Land bleiben?
Tatsächlich war dies ein beliebtes Narrativ: zivile Hilfe funktioniert nur gestützt von militärischer Präsenz, der sogenannte vernetzte Ansatz. Es trifft allerdings nicht zu, wie auch die Reaktionen von ersten deutschen Hilfsorganisationen wie z.B. Caritas zeigen. Sie kritisieren den Abzug, kündigen aber nicht ihrerseits den Abzug an.
Historisch ist zu sagen: auch unter den Taliban, zwischen 1994-2001, arbeiteten zivile Hilfsorganisationen in Kabul, auch die UN. Es ist wenig bekannt. Auch weil Medien und öffentliche Meinung gerne v.a. militärische Narrativ übernehmen. Verständlich und zugleich fatal ohne konkrete Orts- und Lagekenntnis.
In gewisser Weise ist der Abzug des Militärs eine Chance, könnte man nun meinen: weil nur noch zivile Hiflsgelder nach Afghanistan gehen könnten. Allerdings verunsichert zivile Institutionen erfahrungsgemäß, wenn keine Militär mehr da ist, das Helfer und ausländische Investoren schützt und ggf. evakuiert.

Kann eine Machtteilung zwischen Taliban und afghanischer Regierung/Gesellschft gut gehen?

Bedingung: ein rasch überprüfbarer Waffenstillstand müsste sich einstellen.
Die US-Regierung trägt die Hauptschuld, dass dies nicht kontinuierlich von Anfang an betrieben wurde. Anfangs wurde alles als ein Paket verhandelt: US-Abzug, Sicherheit für Taliban und AlQaida, Waffenstillstand und innerafghanische Aussöhnung. Dann aber spaltete man das Verhandlungspaket in zwei. Seitdem droht es ein konstanter Boomerang zu werden.
Zudem möchten die Taliban in Friedensgesprächen auch ökonomisch eingebunden werden. It’s the economy, stupid! Religiöse Posen sind so real wie taktisch. Das setzt ein Maß an Resilienz auf beiden Seiten der innerafghanischen Debatte voraus, das zur Zeit nicht sichtbar ist. Und das der Westen auch nur sehr begrenzt mit beeinflussen kann.