Afghanische Einsichten – Fototext-Buch
AFGHANISCHE EINSICHTEN
Fototextbuch
von
Martin Gerner
ggf. Mitteldeutscher Verlag
ca. 80 Abbildungen, mit Texten des Autors (coypright Martin Gerner)
„Die Würde des Afghanen ist unantastar.
Sie zu achten und zu schützen ist Aufgabe aller staatlichen Gewalt.“
(DLF-Feature Unfinished Business)
Endlich Frieden? Afghanistan im 18.Kriegsjahr. Sowjetischer Panzer in den Bergen von Badakhshan
VORWORT
Frieden mit den Taliban. Und die Waffen schweigen in Afghanistan? Nie schien das Ziel näher als jetzt. Begleitet von den Gesprächen der US-Regierung mit der Taliban-Führung und Projektionen über den Abzug des US-Militärs vom Hindukusch, sowie der Bundeswehr im Gefolge, denn das wäre die Konsequenz.
Es klingt fast zu schön, um wahr zu sein. Dabei deuten einige Zeichen tatsächlich darauf hin, dass sich Etwas bewegt in den Gesprächen über die Beilegung des bald zwanzig Jahre alten Krieges in Afghanistan. Tatsächlich könnte alles sehr schnell gehen. Kritische Beobachter und vorausschauende Zeitgenossen fragen sich deshalb schon jetzt zu Recht: Was bleibt von Afghanistan und dem Ziel der Intervention, den Menschen ein besseres Morgen zu hinterlassen? Was wissen wir überhaupt über die Menschen in Afghanistan, den dieser Einsatz gelten soll?
Über Afghanistan gibt es viele Geschichten deutscher Soldaten auf dem deutschen Buchmarkt. Erzählungen auch von afghanischen Übersetzern in Diensten des deutschen Militärs. Lesenswerte Geschichten, die aber vor allem den deutschen Einsatz in Afghanistan in den Mittelpunkt stellen. Afghanistan und seine Menschen im Alltag, seine Gesellschaft und die Kultur, in die interveniert wurde seit 2001, werden in all diesen Publikationen dagegen weder fassbar noch sichtbar. Ein intimes, unvoreingenommens Bild über das Leben der Menschen in Afghanistan bleibt Mangelware. Diesem Manko soll der vorliegenden Foto-Textband abhelfen.
Einsichten in Afghanistan vermag ich als Autor und Fotograf deshalb in erster Linie zu vermitteln, weil ich nach 2001 als einer der Ersten und als einer von Wenigen den Menschen an vielen Orten und nachhaltig begegnet bin, ihr Vertrauen gewonnen habe. Ohne embed, also fernab militärischer Führungen. Vielmehr bin ich Teil des zivilen Alltags. So habe ich mich in über 17 Jahren auf meinen Reisen durch Afghanistan Land und Leuten erzählerisch genährt und ihr Vertrauen gewonnen. Es ist der Versuch, den Kriegsalltag und die Lebensgefühle dieser Menschen ins Bild zu setzten. Eigewillig und subjektiv, zugleich umfassend weil das ganze Land umspannend, um ein gültiges Abbild zu hinterlassen.
Trotz bekannter Gefahren habe ich das Land über Wege und Strassen, Schlaglöcher und unter der immer präsenten Gefahr von improvisierten Sprengfallen entlang vieler Wege am Boden bereist. Ich betone am Boden, weil ausländische Helfer und Diplomaten sich seit mehreren Jahren nur noch mit dem Flugzeug von Stadt zu Stadt bewegen. Der einfache Afghane sich derweil am Boden mit der Unbill aus fehlender Sicherheit, Naturkatastrophen und dem Kampf mit der Zeit herumschlägt.
Zwischen 2001 und 2019 sind so Tausende von Fotografien entstanden, die bewußt die Geschichte und den Moment hinter bzw. jenseits der Schlagzeile suchen. Dieser Foto-Textband dreht die Persepktive um: Er eröffnet neue Sichtweisen und ein Verständnis für das Leben und die Herausforderungen der Einheimischen als bislang vernachlässigter Teil der westlichen wie der deutschen Intervention. Am Ende geht es darum, den eigenen, gewohnten Blick in Frage zu stellen.
Stefan Moses, bekannter Fotochronist der deutschen Zeitgeschichte, hat es einmal so formuliert: „Für mich ist Deutschland genauso exotisch wie Afghanistan. Überall unerforschte Gebiete.“ Es geht bei Afghanistan also auch um das Bild, das wir uns von uns selbst machen. Und von einem Abbil der der Mitverantwortung, die wir für Afghanistan tragen.
Büro der Nachrichtenagentur AFP, Kabul: Journalistenalltag mit Helmpflicht bei Anschlag
Abzug also? Falls ja: Mit welchem Bild verlassen wir das Land? Was außer stereotypen Fotos von Frauen in Burka und in Waffen erstarrten Turbanträgen prägt unser kollektives Gedächtnis? Wer ist in der Lage ein reales Bild zu zeichnen, jenseits staubiger Berge, bettelnder Kriegsopfer, Opium-rauchender Mohnbauern, um einige der bekannten Klischees zu benennen? Wo darf der Afghane Mensch sein und nicht nur Projektionsfläche unserer Hilfs- und Entwicklungs-Agenden sowie stereotyper westlicher Medien-Narrative?
Zehn Jahre nach der Katastrophe von Kundus zeichnet dieser Band in persönlichen Begegnungen und Erinnerungen den Versuch nach, das Land ab 2001 schrittweise aufzubauen mit westlicher Hilfe. Ich erzähle über Menschen in den eigenen vier Wänden, portraitiere Männer wie Frauen, Gewinner und Verlierer, Akteure wie Opfer des Krieges. Am Ende steht ein ebenso aktueller wie beunruhigender Exodus in diesem noch jungen Jahrhundert: Flucht und Migration aus Afghanistan, nach Deutschland und nachh Europa. War und ist er die logische Folge nach dem Abzugs des ausländischen Militärs? Fraglos ist immerhin, dass der Westen mit der Argumentation interveniert ist, Land und Menschen am Hindukusch zu retten. Was ist aus diesem Anspruch geworden? Wie und weshalb haben sich die Verantwortlichen zusehends von diesem Anspruch distanziert und in dem Maß, in dem sich die Lage veränderndert hat? Das Auge meiner Kamera liefert bemerkenswere Hinweise auch zu diesen Fragen. Mein Dokumentieren versteht sich hier als Teil einer erfahrenen Verantwortung und als Mahnung vor dem Vergessen – den Afghanistan gerät international gesehen immer mehr aus den Schlagzeilen, während die Karawane des Kriseninterventionismus weiterzieht – zu Unrecht.
Welche Wunden hat der Krieg bei den Afghanen hinterlassen? Was heisst es, zwischen den Fronten zu leben, im Ungewissen? Aber auch: Woher kommen Zauber und Lebenfreude, die ein ums andere Mal spürbar sind, vor allem wenn man längere Zeit unter den Menschen verbringt und die Masken voreinander fallen. Die folgenden Bilder und Kapitel erzählen skizzenhaft einige der Themen, die der Bild-Textband enthält.
Skizze der Kapitel
-Nach den Taliban: Anfänge, Freitheit wagen
-Urbanes Afghanistan: die Saat der jungen Generation
(s. dazu auch Bild-Reportage Deutschlandfunk, Afghanistan Finden:
http://deutschlandfunk.pageflow.io/afghanurbistan-afghanische-welten#14925)
-Ländliches Afghanistan: Satellitenschüsseln im globalen Dorf
-Leid und Würde: Portraits des Anderen
-Kundus: Begehung eines mißverstandenen Kriegsortes
-Afghanistan from Inside: Gesellschaft, Rituale, Idole
-Bruchlinien: Demokratie im Sinkflug
-Exodus: Flucht und Migration aus Afghanistan ab 2015
(sieh Bild-Reportage Serbien, mit Audio-Erzählung)
http://deutschlandfunkkultur.pageflow.io/endstation-serbien#116000
über den Autor
Martin Gerner ist ARD-Autor, Fotojournalist und Filmregisseur, Mitglied der VG Bild-Kunst und mehrfach für seine Fotoarbeiten und Autorentexte ausgezeichnet, u.a. beim internationalen Kolga Fotofestival in Tiflis/Georgien, Träger des DEFA-Förderpreises und Award Winner der DOK Leipzig als Dokumentar-Autor.
Seit 2001 arbeitet er für deutsche Meiden in Kriegs- und Krisengebieten, vor allem in Afghanistan. Davor fester Redakteur bei Deutschlandfunk/DeutschlandRadio.
Als Dozent und Trainer hat er beim Aufbau einer neuen Medienlandschaft in Afghanistan nach dem Ende der Taliban vor allem Hunderte von jungen afghanischen Journalisten und Journalistinnen ausgebildet. Sein Dokumentarfilm Generation Kunduz ist international mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. Er ist Blogger für das Afghanistan Analysts Network sowie freier Dozent für Konfliktforschung, Interkulturalität und Medien.
(www.martingerner.de / www.generation-kunduz.com)
Mitten ins Geschehen geworfen. So ergeht es mir, als ich unmittelbar nach 2001 in Kabul lande für meinen ersten Fortbildungsauftrag. Die Rollpiste ist ein Trümmerfeld, links und rechts gesäumt von Wrackteilen zerschossener Flugzeugteile. Wie ein Teppich stummer Kriegszeugen breiten sie sich vor mir aus.
Niemand wartet auf mich am Flughafen. Vergeblich harre ich meiner Gastgeber, die mich offenbar vergessen haben. Das Telefon antwortet nicht. Es bleibt mir nichts anderes, als mir den Weg in die Stadt alleine zu bahnen. Mit dem Taxi. Das angerostete Auto stammt noch aus russicher Produktion. „Damals, 1979“, sagt der ergraute Fahrer und legt die Stirn in Falten, „hat ein Einziges fremdes Land hier interveniert. Heute sind es Dutzende verschiedener Länder, die helfen wollen. Und jedes kommt mit eigenen Anweisungen, wie wir es machen sollen.“ Sicherheit, Vertrauen flösst ihm dies offenkundig nicht ein. Der Mann am Steuer soll recht behalten, wie sich im Lauf der Jahre herausstellt. Dabei ist alles angerichtet, um zu gelingen.
Mit der US-Intervention 2001, der NATO-Bündnispartner folgen und eine Allianz internationaler Länder im Kampf gegen Terror, verändert sich Kabul unter meinen Augen schneller als die vielfach zerstörten Häuserfassaden vermuten lassen. Die Zahl von Handy-Besitzern steigt jede Woche exponenziell. Zu Taliban-Zeiten war telefonieren ein Privileg der Wenigen, oft der primitiv Herrschenden, weil vom Land in die Städte Zugewanderten.
Nun, Ende 2001, ist auf einmal wieder Geld im Umlauf, gelangen zurückgehaltene gelagerte Waren auf den Markt, wie immer nach grossen Kriegen.
Zwei Telefon-Anbieter teilen sich anfangs den afghanischen Telefonmarkt auf. Das Groteske: die Netze sind untereinander nicht erreichbar. Kommunikation als Einbahnstrasse.
So gibt es gute Gründe, die Stadt selbst zu erkunden, auch zu Fuss, was damals noch möglich ist, denn Menschen aus dem anderen Telefonnetz müssen irgendwie erreicht werden.
Ich erarbeite mir Kabul. Das geht anfangs noch recht gut. Mord und Anschläge sind isolierte Phänomene. Afghanische Kollegen erfreuen sich ganz überwiegend der neuen, fremden Bekanntschaften. Ich bin ein kleines Puzzleteil bei Aufbau einer neuen Medienlandschaft im Land, gekommen um junge afghanische Journalisten und Journalistinnen zu unterrichten. Dozieren heisst vor allem Zuhören, lerne ich als Erstes.
Begegnung durch die Taxi-Scheibe, Kabul
Kabul erkunden heisst, jeden Abend eine Schicht körniger Erde auf den Zähnen zu tragen, ein Schicht dicken Dunstes aus unentrinnbarem Staub, Rauch ungefilterten Benzins und den über der Stadt liegenden Schwaden tausender Holzkohle-Öfen. Auch ein dicker täglicher Film auf dem Laptop-Bildschirm und an meinem Hemdkragen zeugen davon.
Nur im Sommer, meist bei geringem Verkehrsaufkommen, liegt keine Dunstglocke über der Stadt. Das zurückgebliebene Kabul, kein Zweifel, kann sich in diesem Punkt zumindets mit den grossen chinesischen Industrie-Städten messen.
Auf der Strasse heisst: für das Leben lernen. Sehen lernen: Kinderarbeit. Überlebensnotwendig. Gelegentlich steckt unter einem Buben-Haarschnitt ein junges Mädchen, das für die Familie in die Schlacht um ein paar Cent auf den Bazar geschickt wird. Es ist ein uerbittlicher ökonomischer Druck, so die Familien der Betroffenen, der sie dazu zwingt.
Dieser Junge bedient die anfangs stetig wachsende Zahl ausländischer Helfer, Diplomaten und Militärs, die sich in Kabul ansiedeln, mit frischer Zeitungsware. Gedruckt und zusammengestellt wird sie bei der ersten Hilfsorganisation, bei der ich arbeite. (…)
Im Rückblick erscheinen die Jahre bis 2004/05 als eine Art goldene Zeit. Sie lebt von der Neugier auf den Anderen, den neuen Freiheiten, der Lust an der Begegnung. Einem nicht von allen, aber von vielen geteilten Willkommensgefühl. Von der Neugier an dem, was die intervenierenden Mächte Demokratie nennen.
Bald wird sich das Bild ändern. Noch aber schweigen die Waffen der Taliban, die am Bonner Petersberg als Geschlagene, als Verjagte nicht mit am Verhandlungstisch mitsitzen. Ein Fehler, wie maßgebliche Diplomaten Jahre später erklären werden. Für das Erste lecken sie ihre Wunden. Dafür treten Mädchen und Frauen aus dem Schatten heraus, zaghaft und mutig zugleich testen sie die Grenzen der neuen Verhältnisse aus.
Landstrasse in Richtung Shomali-Ebene. Eine Strassenbegegnung, typisch für diese Anfangszeit.
NATO-Soldaten posieren auf den Strassen von Kabul, ohne sichtbaren Anschein von Stress für das Foto. Noch kommen sie nicht auf den Gedanken, dass die neben ihnen auftauchenden Kinder schlechte Absichten hegen könnten. Es fehlt an entsprechenden Schlagzeilen, Tätern. Erst Ende 2004, später als der Irak, wird Afghanistan zum Zentrum erster Selbstmordanschläge.
Dänischer Soldat auf Patrouille in den Strassen von Kabul
Wenige Jahre später bekommen die gleichen jungen Afghanen am Strassenrad das ausländische Militär nur noch im gepanzerten Wagen zu sehen, mit Helm, schwarzer Sonnenbrille und MG im Anschlag. Die Entfremdung setzt langsam aber stetig ein, und sie ist sichtbar.
Weihnachten im Sommer – an Eid, dem Opferfest, bekommen Kinder und Jugendliche neue Kleidung und allerlei Spielzeug geschenkt.
URBANES AFGHANISTAN.
Die Saat der jungen Generation
(vgl. auch Bild-Reportage Deutschlandfunk, Afghanistan Finden:
http://deutschlandfunk.pageflow.io/afghanurbistan-afghanische-welten#14925)
Fitness-Club in Herat, der zweitgrössten Stadt im Land. Sport in geschützten Räumen zieht mehr Aktive an als unter freiem Himmel. Gleichwohl sind auch Fitness-Clubs in jüngster Zeit Opfer von Anschlägen geworden.
Leben auch ohne Kopftuch. Musikschule, Kabul
Beauty-Parlors, Schönheits-Studios: unter jungen Frauen einer der begehrten Ausbildungsberufe, wie hier in Herat. Die Lehrerin spielt den Klient. Direkte Begegnungen mit Männern um die Volljährigkeit sind selten. Je kleiner der urbane Kontext ist, desto öfter finden über soziale Medien und digitale Foren statt.
Das männliche Gegenstück. Friseursalon in Doshi, Provinz Baghlan
Für die Hochzeit der Töchter und Söhne ist das Teuerste gerade gut genug: regelmäßig verschulden sich afghanische Familien für die Vermählung ihrer Kinder derart, dass das afghanische Parlament ein Gesetz verabschiedet hat, um eine Höchstgrenze für diese Art von gesellschaftlicher Konvention festzusetzen. Ein ganzer Stadtbezirk in Kabul hat sich so herausgeschält, an dem Hotel an Hotel liegt – riesige Festsäle, die von Mittags bis Mitternacht ohne Pause bespielt werden. Eine Hochzeitsgesesllschaft kann bis zu 2.000 Anwesende zählen. Um das Geld für den Anlass zusammen zu bekommen gehen viele schiitische junge Männer ins Ausland, um etwa monatelang im Iran zu arbeiten und Geld anzusparen. Nach der Hochzeit lastet der Druck, geliehenes Geld früher oder später zurückzuzahlen. Oder in der sprichwörtlichen Schuld der Geber zu bleiben.
Parallel-Gesellschaften: fast alle Hochzeiten verlaufen mit einer Trennwand aus Paravents. Männer und Frauen tanzen getrennt vom Blick der Anderen. Nur engere Familienmitglieder durchbrechen die Regel und springen oft auf beiden Seiten hin und her.
Bodengedeck zur grössten Feier des Lebens. Provinz Herat
LÄNDLICHES AFGHANISTAN.
Nirgendwo Militär, dafür Satellitenschüsseln im hintersten Winkel
Lastwagenfahrer, Yakaolang, Provinz Bamiyan.
Bollywoodgrössen prägen das Ideal mancher Träume.
Junge Hirtin mit Herde, Shahristan, Provinz Daikundi
Die Junge Hirtin, Shahristan, Provinz Daikundi
Forstwirt und Ziegenhirte mit seinen Aufzeichnungen, Dar-e-Noor Bezirk, Provinz Nangarhar
Fortschritt, wo Ahnungslosese vermutet werden,
Stattliches Anwesen aus Lehm in der Provinz Bamiyan
Schulprüfung im Freien und damit keiner vom Anderen abschreibt. Shahristan, Provinz Daikundi
Where the road ends, the Taliban begin – ein US-General prägt diesen Spruch im Lauf des Afghanistan-Kriegs. Mal erweist er sich als richtig, mal als falsch. Die Wirklichkeit erweist sich meist als dehnbarer, als die Strategien des Militärs. / Strassenbau bei Faizabad, Badakhshan
Strassenbau bei Faizabad, Badakhshan, junger Tagelöhner
Schulunterricht im Niemandsland. Jungen und Mädchen legen auf dem Land oft Stunden und Kilometer zurück, um vor der Tafel zu stehen. Die Lehrer sind selbst Opfer der Kriegs-Jahrzehnte und mithin nicht länger als 7, 8 oder 9 Jahre in die Schule gegangen.
Grundschule unter freiem Himmel, Provinz Daikundi
Hierhin reisten in den 70-er Jahren deutsche Hippies: Getreide-Ernte in der Provinz Bamiyan nahe dem Tal der einstigen Buddhas.
Das globale Dorf lebt: neben Handy und zunehmend auch Internet-Verbindungen gehört Fernsehen mit buntem Entertainment zur Standard-Ausstattung vieler Chaikhanes, den typischen Tee-Küchen, die die Strassen auf dem Land säumen / Chaikhane, Provinz Daikundi
VON WÜRDE UND LEID.
Portraits des Anderen
Eine Zukunft mit Buch oder mit Waffe? Schicksalhaft drängen sich diese Alternativen am Hindukusch für aufwachsende Männer auf.
Schon allein deshalb, weil Bildung ein Privileg der Wenigen ist. Der Zugang und das Gesetz der Waffe beschreibt umgekehrt die Ohmacht eines Staates, der sich gegen allerlei bewaffnete Gruppen zu wehr setzten muss und dabei doch zu schwach bleibt, um von den Menschen als einzige Autorität anerkannt zu werden.
oben: Junge mit Schulbuch vor einer Moschee in Tahimani/Kabul (oben) und
Polizist im Dienst, Herat.
Krankenhaus der verbrannten Frauen, Herat.
Ausgerechnt in Herat, nach Kabul die zweitgrösste Stadt und für manches zivilisatorisches Ausrufungszeichen bekannt, ereignen sich Jahr über Jahr die meisten Selbstverbrennungen afghanischer Frauen. Häusliche Gewalt ist die häufigste Ursache dafür. Im Stadtzentrum ist für die Opfer eigens ein eigener Krankenhaus-Komplex gebaut worden. Die Hautverbrennungen sind meist zweiten und dritten Grades. Nur ein Teil der Frauen überlebt sie.
Junge am Tor der lokalen Radio-Station, Kandahar
Frisch verlobt. Provinz Herat
Auf dem Kabuler Golfparcours sind die Rollen klar verteilt, die Afghanen meist die Caddies. Zumindest wenn ich hier als Zaungast vorbeigekommen bin. Angelegt wurde der Kurs in den 60er Jahren. Ob die Grüns damals grün waren, ist nicht verbrieft. Die Rollenverteilung mag als Sinnbild dienen für Vieles im Umgang zwischen einheimischer Bevölkerung und den zu Tausenden einströmenden Ausländern.
KUNDUS.
Begehung eines mißverstandenen Kriegsortes
2008 besuchte ich Kunduz mehrfach. Die Lage in der nördlichen Region, die die Bundeswehr stellvertretend für die NATO militärisch sichern hilft, hatte sich in den Monaten davor stetig zugespitzt. Aufständische konnten sich immer stärker in der Provinz festsetzen. Dass auch Kundus Stadt, das Verwaltungszentrum, beschossen würde, scheint jetzt nur noch eine Frage der Zeit. Etwas Grösseres liegt in der Luft.
Ich drehe in dieser Zeit einen Film, Generation Kunduz, und treffe dafür mit vielen Menschen zusammen. Gul Jan etwa, die dienstälteste unter den Polizei-Frauen von Kunduz, hatte ich zunächst einen Besuch abgestattet. Um Vertrauen aufzubauen. Als Erfahrendste der 17 weiblichen Polizei-Beamten ist sie die Einzige, die bereit ist, mich Zuhause zu empfangen. „Ich habe Todesangst. Khatare margh“, empfängt sie mich. „Die Leute werden reden über mich. Über ihren Besuch und was Sie hier wollen.“
Kundus ist 2009 noch nicht zurück in die Hände der Taliban gefallen. Das geschieht erst 2015 und löst ein Erdbeben bis nach Kabul aus. Tausende flüchten, zunächst ins Umland und zu Verwandten nach Kabul.
Aber die Reaktion in Gul Jans zuhause, einem einfachen Lehmbau, im Beisein ihres Vetters und ihrer Kinder, zeigt mir, wie nachhaltig der Krieg das Gewebe einer Gesellschaft zerstört hat. „Gerüchte sind hier eine eigen Macht, eine Wirklichkeit für sich“, so Gul Jan. „Ich ich fürchte mich vor ihnen und vor dem, was die Nachbarn sagen. Man weiss nicht, wer von ihnen mit wem von den Regierungsgegnern in Verbindung steht.“
Ein Fremder Mann zu Beusch bei einer afghanischen Frau – ein gefundenes Thema für Spekulationen. Wird sie Geld beziehen von dem Fremden? Informationen weitergeben über die Nachbarschaft oder Aufständische? Oder – so die kühnsten Gerüchte, die bei derlei Besuchen auftauchen – mischen sich hier sogar die Körper über alle Grenzen hinweig? Dabei hat, man muss es an der Stelle sagen, die afghanische Gesellschaft selbst inzwischen eine eigene Dynamik der Prostitution im Krieg entwickelt. Für Fotografen allemal ein Tabu, ein Ort, zu dem es keinen fotografischen Zugang gab. Es bleibt, wie hier, ganz überwiegend ein Gerücht. Ergebnis von Skepsis, Furcht und Unwissen.
Gul Jan mit ihrem Sohn und einem Verwandtem in ihrem kleinen Haus mit Lehmgarten
beim Schlachten eines Opfertiers, Eid-Fest
In den Gassen von Kundus
‚Nichts ist gut an Afghanistan‘, hatte eine deutsche Protestantin schlagzeilenträchtig erklärt. Kunduz, vor allem, war damit gemeint und der Luftangriff vom 4. September 2009 mit seinen über einhundert Toten. Bis heute konnte nie genau rekonstruiert werden, wieviele Taliban, denen der Angriff gegolten hatte, tatsächlich unter den Opfern waren. Sicher ist heute nur, 10 Jahre nach der Katastrophe, dass uns ein klares Bild von den Menschen in Kunduz fehlt. Hier hatte die Bundeswehr die höchste Zahl an Opfern zu verbuchen. Zugleich wuchs – spätestens als die Bundeswehr 2006 die Stadt verließ, um außerhalb in der nahenden Provinz ihr Lager zu beziehen – die Entfremdung zwischen Einheimischen und ausländischem Militär. Zwischen Intervenierenden und Intervenierten waren kaum noch Kontakte vorhanden.
Der Haupteingang zum ehemaligen Militärlager/PRT der Bundeswehr in Kunduz.
Deutschlands Opfer (und vor allem die Ausgaben an Steuergelden) waren besonders hoch an diesem symbolträchtigen Ort. Bilanzen toter Afghanen kommen darin selten vor. Wenig bekannt etwa ist, dass das deutsche Lager im ersten Verteidigungsring an seinen Toren von afghanischen Soldaten und Polizisten abgesichert wurde. So sind zahlreiche afghanische Streitkräfte zu Tode gekommen bei Anschlägen. Eine Journalistin in Kunduz sagt es in ihren eigenen Worten: „Viele sprechen von den Opfern, die das ausländische Militär bringt. Aber in Wahrheit sind es unsere Soldaten, die in der ersten Reihe stehen. Wenn von ihnen einer fällt, ist das in westlichen Medien kine Schlagzeile wert. Wohl aber, wenn ein deutscher Soldat stirbt.“
Die Front ist ein relativer Begriff. Kunduz dafür ein gutes Beispiel. Mal ziehen sich Aufständische und Taliban zurück. Mal starten sie mehr oder weniger überraschende Angriffe aus den Bergen oder aus der Fläche. Leidtrangede sind die Zivilisten. Besonders auf dem Land sind sie beidem ausgesetzt.
Afghanistan von Innen.
Gesellschaft, Rituale, Idole
Afghanische Idole, eine Zeitreise: vom Propheten, über den Widertandskämpfer gegen Sowjets und Taliban bis hin zu Shahrokh Khan, Bollywoods grosser Ikone.
Ein wenig Glanz, zwischen all dem Staub. Junger Mann in Kabul.
Geschlechter-Rollen im Wandel. Afghanistann besaß in den 50er und 60er Jahren eine der fortschrittlichsten Verfassungen in Zentralasien, mit verbrieften Rechten für Frauen. Hier proben zwei Studenten der Theater-Fakultät Kabul in privaten Räumen für ein Stück.
Frühstück unter Freunden, Provinz/Stadt Herat.
Lokale Tracht, globale accessoirs: Billiard-Halle in Mazar-i-Sharif.
Die Akbars, eine ebenso tüchtige wie clevere Familie, die vor allem ihre Töchter unermüdlich gefördert und ausgebildet hat, konnte ich öfter in ihren eigenen vier Wänden besuchen. Unbefangen agierten sie dabei, sobald sie im geschützen Raum sind.
Der öffentliche Raum ist unverändert geprägt von blauen Burkas. Aber nicht nur. Die Kinder dieser Frau, lässt sich vermuten, werden sich bereits wehren gegen ein Kleidungsstück, dem nach ihrer Ansicht nicht die Zukunft gehört.
Der Brotpreis, sofern er denn stabil bleibt, ist ein Gradmesser für die Zufriedenheit der Menschen: Einlick in eine typische Bäckerei.
Bruchlinien.
Demokratie und Stabilisierung im Sinkflug
Ein Moment im Oktober 2004, der die ganze Hoffnung und Erwartung eines Volkes wiedergibt, nach Jahren der Entbehrung: auf den Strassen von Kabul warten Tausende von Wählern schon früh vor den Urnen und bevor die Wahllokale aufmachen: es sind die ersten Präsidentschftswahlen. Der Glaube der Menschen an transparente Demokratie, politische Gleichheit und an Gerechtigkeit nach Mord und Gewalt wurde allerdings rasch enttäuscht. Alte Eliten kauften sich in die Politik ein, neue Eliten mehrten hierbei ihren Reichtum. Der Westen liess es geschehen und machte sogar gute Miene zum bösen Spiel. Verantwortliche Warlords wurden bis heute nicht verfolgt. Parlament und Demokratie wurden in den Augen vieer so, nach und nach, zu einem Schimpf- und Reizwort, vor allem bei jenen, die bis heute nicht von dem Kuchen der Entwicklungshilfe abbekommen haben.
In der Provinz Kandahar, wo ich 2004 unterwegs war, waren Fotos für den Wahlausweis oft die ersten Bilder, die Menschen von sich machen in ihrem Leben machen liessen.
Eine Mission ohne klares Ziel und Ende? Italiensiche Patrouille bei der abendlichen Fahrt durch Kabul.
Die Intervention des Westens wollte am Anfang ein light footprint sein, Hilfe mit leichten Fußabdruck, das den Afghanen den Vorrang lässt. Tatsächlich fanden sich viele Afghanen entmündigt und zum Zuschauen verurteilt angesichts immer kostspieliger militärischer Investitionen und Aufbaupläne. Mehr Sicherheit bleibt vielfach ein Wunsch. Um Wünsche und Verletzungen, die dabei auftreten, drehen sich vieler meiner Gespräche mit den Menschen.
Aufbau der afghanischen Zivilgesellschaft, stand bis 2009 und darüber hinaus auf der Agenda der US-Regierung und des intervenierenden Auslands. Ein Versprechen, dass auf dem Land von Beginn an skeptischer verfolgt wurde. Skeptischer als in den grossen Städten, weil dort die meisten Brosamen hängen bleiben, bis heute.
Wer schützt hier wen? Mehrfach-Betonwände sollen Amtsträger und Sicherheitskräfte aus dem In- und Ausland vor Anschlägen schützen. Die Menschen, die neben mir mit dem Fahrrad hier vorbeifahren, sind gemeinhin die ersten Betroffenen zivilen Opfer.
Wächst auf diesem Bild die Sicherheit? Oder auch die Angst? Vor ausländischen Einrichtungen und solcher afghanischer Sicherheiskräfte sind die Mauern Jahr um Jahr angewachsen, vergleichbar den Jahresringen von Bäumen, wenn man sie fällt. Vertrauen, die unerlässliche, wichtigste aber zugleich unsichtbare Zahlungseinheit in jedem Kriegsgebiet, führt in diesen Tagen ein schweres Dasein.
Bald ein Bild von gestern? Vor allem weibliche Journalisten und Frauen, von denen ich viele ausgebildet habe über die vergangenen 15 Jahre in Afghanistan, fürchten, dass eine Machtbeteiligung der Taliban ihre Arbeit künftig unmöglich macht.
Neureiche Afghanen gedeihen im Schatten der vielen Hilfsgelder, die in das Land geströmt sind. Wer ein erfolgreichs Business hat, schützt sich, wie hier, beim Baden mit privaten Sicherheits-Diensten.
Afghanischer Polizeirekrut mit Holzwaffe in einem Trainingslager unter deutscher Polizei-Anleitung. Seitdem bei Ausbildungen Übergriffe von Einheimischen auf ihre Ausbilder vorkamen, wird überwiegend mit Holzwaffen geübt. Mazar, Afghanistan 2009
In Karte Char, einem populären Viertel von Kabul, sind die Lebenden und die Toten nur scheinbar von einander getrennt.
(…) Bild folgt
Die islamische Tradition übergibt die Toten ohne Sarg und aufwendige Zeremonie der Erde. Wenn wie hier, der Familienvater stirbt, geht die ganze Verantwortung auf den ältesten Sohn über.
GELOBTES LAND ?
Fluchten und Migration aus Afghanistan 2015 ff.
(vgl. dazu Bild-Reportage Serbien, mit Audio-Erzählung)
http://deutschlandfunkkultur.pageflow.io/endstation-serbien#116000
Wir schaffen das! Der bekannte Satz von Angela Merkel könnte genauso gut stehen für die Intervention in Afghanistan ab 2001 und dem Optimismus, mit dem beide Seiten anfangs ans Werk gingen. Viele Faktoren wurden allerdings in der Rechnung nicht mit berücksichtigt. Auch blieben die Einheimischen, die ihr Land recht gut kennen im Vergleich zu den Intervenierten,
oft Randfiguren, wenn es um Mitbestimmung ging. Aus dem light footprint der UN wurde ein tiefer politisch-militärisch angeleiteter Fußabdruck, der viele der Einheimischen überforderte.
Als die NATO und mit ihr weitere ausländische Truppen 2014 abzogen, füllte sich das entstehende Vakuum vor allem mit Unsicherheit – auf vielerlei Ebenen. Hinzu kam, dass man sich an gewisse Verheissungen der intervenierenden Mächte gewohnt hatte. Wachsend und immer mehr wurde der Westen zum einem magischen Ziel, dass den afghanischen Alltag und sein wiederkehrendes Elend erleichtern könnte, so die Hoffnung. Hier beginnt, was ein grosser Exodus geworden ist für viele, der immer noch anhält.
Armut ist neben Krieg der häufigste Beweggrund, weshalb die Menschen ihre angestammte Heimat verlassen. Immer wieder habe ich erlebt, wie trockene Sommer über Jahre hinweg oder besonders harte Winter, die die Böden erst spät wieder freigeben, Ursache für Binnenmigration sind. Diese Familie ist unterwegs in Shahristan, im Hazarajat Hochland der Provinz Daikundi.
Der Busbahnhof von Kabul ist den letzten Jahren und trotz warnender Stimmen Ausgangspunkt vor allem für junge, nicht selten ungebildete Männer, die ihr Glück im Ausland versuchen wollen.
Stolz präsentiert dieser Reisende, bald Migrant, sein Ticket für die erste Strecke nach Westen. Hiermit kommt er bis in den Iran. Dort ergeben sich viele der Mäner dann in die Hände von Schmugglern, bepackt mit wenig mehr, als auf dem Foto zu sehen, und unklar, wie lange die Reise dauert und was sie bringen wird.
Auf der Balkan-Route, angefangen von Lesbos/Griechenland, bis zur serbisch-ungarischen Grenze in der Vojvodina, sind Afghanen mit oder ohne Familie zur Zeit die Nation, die am stärksten mit Füchtlingen vertreten ist, wie ich mich auf meinen Reisen überzeugen konnte. Hier betet ein junger Mann in einer improvisierte Moschee, in den Hallen eines alten Fernverkehrbahnhofs von Belgrad/Serbien.
Zeltstadt unter unhaltbaren hygienischen Zuständen, improvisiertes Flüchtlingslager am Bahnhof von Belgrad/Serbien
Traumziel Westen: afghanische Flüchtlinge auf dem Weg in ihre improvisierte Unterkunft, kurz vor der serbisch-ungarischen Grenze.