Money for nothing: Georgiens Traum, Europas Krise und der Kaukasus

 

Hört ihr, Freunde, Geschichte geduldig,
wenn ihr verstehen wollt, warum wir bluten –
der Krieg beginnt nie jetzt, sein Keim wächst
im Schoß der Zeit,
weit von uns,
im Dunkel…
und ist immer alt,
wenn er geboren wird.

 

Georgien ist ohne Frage ein gutes Beispiel um, wie in einem Brennglas, die Krise Europas und des Kaukasus zu beleuchten, und ganz sicher kommt man dabei nicht an der russischen Einflussflußnahme in Georgien vorbei, die es dem Westen und Europa ein ums andere Mal erschwert, vorbehaltslos seinen Vorposten in unmittelbarer Nähe zu Putins Reich auszubauen oder zu festigen. Klingt nach politischen Strategie-Spielen? Ist aber der Stoff, zu dem in Tbilissi, Kutaissi oder Batumi beim Abendbrot trefflich gestritten wird.

Es war und war auch nicht.

Eine singende Drossel.

Gott ist groß, 
der Mensch ist klein.

 

Nicht nur auf den ersten Blick ist Georgien ein sehr sympathisches Land: auf dem Friedhof sitzt man zu Grabe an Tisch und Bänken und verzehrt zu Füssen der Verstorbenen. Zuhause stehen die Türen und Tore meist weit offen, gleich ob auf dem Land oder  stadteinwärts. Musik dringt aus den Türen, Stimmen und Gesang, der Geruch frisch zubereiteter Speisen. Zutraulich, als erwarte der Gastgeber allein vertrauenswürdige Nachbarn und Fremde.
Das aktuell regierende Bündnis an der Macht nennt sich Georgian Dream, georgischer Traum. Als gelte es, die neoliberale Politik des letzten Jahrzehnts mit den zunehmend düsteren Prognosen von sozialer Ungerechtigkeit zu versöhnen. 
Dabei haben Georgian Dream und die zerstrittenen politischen Eliten im Land allesamt einen Stein im Brett der westlichen Wirtschafts- und Entwicklungshilfe, die hier millionenschwer aufschlägt, mit all dem ambivalenten Einfluss, den das Intervenieren immer mit sich bringt. Mehr dazu weiter unten.
Willkommen scheint nicht wenigen die starke Führhand des Westens in Georgien auch angesichts andauernder Versuche russischer Einflussnahme. So arbeitet Moskau, wenig überraschend, daran in Georgien über Presse, Fernsehen und soziale Medien Einfluss zu nehmen auf eine Bevölkerung, die fast ausnahmelos russisch spricht und oft noch sozialisiert ist. Georgien ist damit, je nach Standpunkt, ein Spiel- oder Schlachtfeld im neuen alten Kalten Krieg gegen Putins Gelüste. 
Für den Westen liegt hier aber nicht weniger ein süd-östlichstes Experimentierfeld für Demokratie und Erweiterung, das er pflegt:  
US-Amerikaner wie Europäer hegen hier ihren Traum: die Einflusssphäre gleichgesinnter Demokratien nach Osten auszudehnen.

Im Wäldchen war ein Vogel gestorben,

ich legte ihn auf den Zaun,
da war er vertrocknet,
 ich nahm ihn herab,
da war er verfault:

in einen grossen Kessel passte er nicht,

in einem kleinen war er zu winzig:

hundert Leute konnten ihn nicht aufessen,

er war ein Bissen für einen Mann.

 

Passend dazu hängen an diesem 9. Mai blaue Fahnen mit dem Sternenkranz der EU in Tiflis an den Fahnenmasten. Man könnte meinen, das Land sei bereits Teil der Europäischen Union. Ein georgischer Traum, der seine Entsprechung in einer immer noch dumpfen Realität im Alltag findet. Zwar herrschen, verglichen mit weiten Teilen der Region, weitgehend Frieden und Freiheit auf dieser relativen Insel im Kaukasus. Aber das Erbe der Kriege um Abchasien und Südossetien, jetzt bald zehn Jahre alt, lastet unverändert auf den Verhältnissen. 
Beide Gebiete hat Georgien faktisch an die russische Einflusszone verloren, rund ein Fünftel seines Staatsgebiets.
Über eigene Fehler, Missgriffe und Schuld dabei zu reden, fällt vielen bis heute schwer. Georgien und Rußland, so erzählt ein langjähriger Offizier, unterhalten infolge der Waffengänge bis heute keine Botschaften in den jeweiligen Nachbarländern.  Es sind Schweizer Diplomaten, die dafür sorgen, dass der diplomatische Gesprächsfaden zwischen Tiflis und Moskau nicht abreißt, die Sprachlosigkeit nicht ganz aussetzt.
Dabei lebt Georgien auch und nicht zuletzt vom Geld, das russische Touristen in das Land tragen.
 Russisch gilt, auch ein Vierteljahrhundert nach Zerfall der Sowjetunion, noch immer als lingua franca hier. Die russisch orthodoxe Kirche in Tbilisi ist alles andere als ein Fremdkörper im Stadtbild. Und die trockene Brücke am Ufer der Mtkwari mit ihren Auslagen an Antiquitäten aus der Sowjet-Zeit, strahlt eher etwas Kontemplatives über den Lauf der Zeit aus, als dass jemand die Flohmarkt-Verkäufer mit ihren Stalin-Standbildern und Sowjet.Orden von hier vertreiben wolle. Hier hört man auch, was einem ältere Menschen ohne Aussicht auf eine feste Rente verschämt ins Ohr flüstern: ‚Früher hatte jeder immerhin genug Brot, um nicht nach Geld zu betteln. Heute reicht die Pension vorne und hinten nicht, für die man sich ein Leben lang abgeschuftet hat.‘

Georgischer Traum und georgisches Erbe bedingen sich also ein gutes Vierteljahrhundert nach dem Zerfall der UdSSR. 2003 spülte die Rosenrevolution mit Micheil Saakaschwili dann einen buchstäblich grossen Hoffnungsträger des Westens an die Macht. Studiert und im diplomatischen Umgang mit dem Westen emanzipiert zunächst in Europa, auf der britischen Insel und dann in New York und an der Wall Street. 
Bald wurde der Mann Präsident und Hillary Clinton schlug ihn für den Friedensnobelpreis vor.
Später die Kriege um Abchasien und Südossetien. Die weisse Veste des Polit-Stars bekam zunehmend Flecken, weil er hier mehr Waffengang als das Schweigen der Waffen betrieb, meinen Zeitgeschichtler. Auch der Westen sagte nicht mehr bedingungslos ‚Ja‘ zu allem.
 Heute ist Saakaschwili ein von der georgischen Justiz gesuchter Mann, dem jahrelange Haft im Fall einer Rückkehr droht. Nach einem freiwillig-forcierten Exil in den USA hat er danach ein politischen Exil in der Ukraine gesucht, dessen Pass er seit kurzer Zeit auch innehat.
Bei Wikipedia (deutsch, und nicht mit einer Encyclopedia Britannica zu verwechseln) heisst es leicht tendenziös: „Saakaschwilis Name ist mit der Abschaffung der Alltagskorruption und dem Aufbau eines funktionierenden Staates in Georgien verbunden.“ 
Seinem neoliberaler Kurs, gepuscht und abgefedert von Weltbank, IWF und den grossen internationalen Institutionen der Finanz- und Politikwelt, hat das Land ohne Zweifel nach vorne in eine neue Umlaufbahn bugsiert. Sein Erbe darf gleichwohl als zwiespältig gelten, je mehr seine Zeit sich entfernt. 
Als Beleg mag das geltende Steuerrecht herhalten. Dieses sieht eine pauschale Besteuerung von Armen wie Reichen bei 20 Prozent vor. Ob bettelnde Rentner, die man allenthalben auf den Strassen und in den Treppeneingängen von Tiflis sieht, oder der Millionen-schwere Investoren: beide entrichten den gleichen Tribut an die Staatskasse.
Das Ungewöhnliche dabei: das Parlament darf in Georgien keine Steuergesetze erlassen, anders als im Rest der Welt. Dafür hat Saakaschwili gesorgt bevor er abtrat. Die 20-Prozent-Besteuerung ist sogar Teil der Verfassung, also nicht abänderbar auf alle Zeiten. So hatte er es sich gewünscht.
Jetzt schlägt die Wirklichkeit zurück. Denn nun ist die Änderung des Passus Teil einer politischen Reformdebatte, die gerade heiß läuft im Land, und um die sich Georgiens Parteien und Zivilgesellschaft streiten. Sollte die eingefrorene Steuer-Lex tatsächlich erhalten bleiben, droht, da muß man kein Prophet sein, tatsächlich eine tiefe soziale Krise: Ein Staat mit derart eklatanten Gerechtigkeitslücken im Steuerregime und fehlenden staatlichen Leistungen an seine Bürger ist zur ewigen Krise verdammt. Was auf dem Spiel steht, kann man hier nachlesen.

Die Not habe ich dort weggeworfen,

die Freude hierhergebracht,

die Kleie habe ich dort weggeschüttet,

die Körner hierhergebracht.

 

In georgischen Märchen kommen immer wieder sechs- oder mystischerweise neun-köpfigen Drachen und Monster vor, auch Riesen, die abwechselnd Könige und Herrscher, deren Söhne und heiratssehnsüchtige Töchter bedrängen. Am Ende gelingt es anmutigen jungen Männern in der Regel die Drachen und Monster heroisch in die Flucht zu schlagen oder zu enthaupten. 
„So sind die georgischen Märchen letztlich sehr realitätsbezogen“, schreibt Hein Fähnrich in einem der Märchen-Sammelbände, „und legen nicht nur Zeugnis ab von der Phantasie der Menschen, osndern auch ihren persönlichen Wünschen, ihrer Sehnsucht nach einem glücklichen Leben und ihrem Streben nach Gerechtigkeit.“
Gut möglich als, dass sich hieraus ein Teil des georgischen Traums nährt, in jedem Fall der nationalen Identität. Die Georgier haben vielerlei Anstürmen getrotzt, darunter Persern und Ottomanen, und sie zelebrieren inbrünstig die Zuversicht und den Glauben an den Schutz des christlichen Kreuzes und seiner Verweser. Wobei Fähnrich auf die historische Trennung von Flachland und Hochland hinweist, und die „georgischen Gebirgsgegenden noch lange die vorchristlichen Traditionen (bewahrten). Bis in die jüngste Vergangenheit opferten die Georgier des Gebirges ihren alten Gottheiten, obwohl sie sich als Christen bezeichneten.“
Zur Kirche und dem orthodoxen Wertekanon bekennen sich heute (für unsere Verhältnisse überraschend viele) fromme junge Menschen und Männer. Eingebettet in die Geschichte der Region nimmt es wenig Wunder. 
Wie gläubig angesichts dessen die jungen Studenten und Studentinnen der Gruppe Auditorium 115 sind, konnte ich in der kurzen Zeit nicht wirklich ausmachen. 
Immerhin hatte ich Gelegenheit, etwas vom politischen Elan dieser jungen Intellektuellen mitzubekommen, einige darunter auch Vertreter der Fabian Socialists. Studentischer Gruppe in beiden Fällen, die sich mit der aktuellen Lage nicht abfinden mögen, auch und gerade wegen des Erbes der Saakaschwili-Jahre.
 Hier ein Gespräch mit Levan Lortkhipanidze, einem der Initiatoren von Auditorium 115.

Es waren Studenten wie Levan, die als Mitbegründer akademischer Bewegungen am und nach dem  9. Mai zu mehreren Protesten aufriefen. Begleitet waren diese von einigen Festnahmen und Polizei-Einsätzen. In einem Fall ging es um ein Unglück in einem Bergwerk im Süden Georgiens, bei dem vier Bergarbeiter zu Tode kamen, nachdem sie tief in einen Bergwerschacht fielen. (hier) Offenbar waren die Sicherheitsvorkehrungen in Tkibuli nicht ausreichend.

Der Protest der jungen Akademiker suchte, ein bekannter Topos, den Schulterschlusses mit dem arbeitendem Volk. Man ahnt, warum dies im eigenen Land zu vermitteln den Studenten im post-sowjetischen Georgien mitunter schwer fällt. Jedenfalls berichteten sie wie selbst davon, und über einige Abneigung, der sie begegneten.
Die jungen Studenten, sagen sie, seien inspiriert vom historischen Vorbild des unabhängigen Georgien, des Modells einer Republik, die ganze drei Jahre lang Bestand hatte, von 1918 und 1921, mit einem eigenen Parlament. Dann setzte die Sowjetisierung Georgiens dieser Episode ein Ende. 
Die Proteste von Arbeitern wie jüngst im Kohlerevier von Tkibuli, die versuchen angesichts der schwindenden Macht lokaler Gewerkschaften gegen neoliberale Unternehmen angehen, die sich ihrer sozialen Verpflichtungen zu entziehen versuchen, sind Alltag in Georgien. Es reicht ein Blick in das Archiv der letzten Wochen und Monate. Auf der einen Seite scheint eine Politik des ‚You’re fired‘ à la Donald Trump zum sozialen Alltag zu gehören.
Auf der anderen Seite hat sich eine Zivilgesellschaft immerhin soweit verfestigt, dass Dinge nicht unwidersprochen bleiben und  Proteste einzukalkulieren sind aus Behördensicht. Die Reaktion der Polizei ist dabei immer wieder ungewöhlich, für unsere Verhältnisse, weil sie eine gewisse Souveränität vermissen lässt. Mehr noch rächt sich aber, und das betrifft Polizei wie Politik, das eine Kultur des Ausgleichs der Interessen über das Gespräch fehlt, ohne das sich verfeindete Seite gleich an den Kragen wollen.
Das Ermunternde auf Seiten der studentischen Aktivisten, wie ich sie in Tiflis kennenlernen konnte, ist, dass sie versuchen Solches hinter sich zu lassen. Auch dies fiel mir auf: jene, die ich traf waren noch nicht durchdrungen von Slogans und Agenden westlicher Stiftungen, Hilfsorganisationen oder (semi-)staatlicher Programme, die sich die Talente städtischer Mittzwanziger zu eigen machen, auf der Suche nach einer sicheren Destination für ihre Fördergelder. Erfolgsgeschichten sollen naturgemäß aus westlicher Sicht belegen, wie erfolgreich die Geberländer beim Aufbau demokratischer Strukturen in Georgien sind.
Wenn sie finden, dass meine Wortwahl hierzu ambivalentes ist, trifft das zu: Ich kann den Umgang vom und mit dem Westen, wie ich ihn in Georgien erlebt habe, in Körper und Geist nachvollziehen. In Vielem ähnelt er dem, was ich aus eigener Anschauung in Konflikt- und Interventionsländern wie Afghanistan, Irak oder Jordanien erlebe: Ein klassisches Set aus englischen Begriffen der Entwicklungszusammenarbeit, das Förderprogramme definiert; maßgeschneidert für young urban professional, die anders als ihre Eltern mit Englisch aufwachsen und sich die Karriereleiter lukrativer Jobs und Institutionen hocharbeiten. 
Es ist kein Zufall etwa, dass im Team von Präsident Saakaschwili nach der Rosenrevolution von 2003 einige Aktivisten aus der kritischen Studentenbewegung kamen, bevor sie den Marsch durch georgische Institutionen und Unternehmen antraten.

Allerdings sind es nicht nur junge Akademiker sondern auch Selbständige und arbeitende Bevölkerung, die zu einem ähnlichen Urteil gelangen angesichts einer Masse von westlichen Hilfs- und Förderprogrammen im Land. Ihr Urteil lautet unisono und in etwa so: Viel hören sich gut an und wird gut bezuschusst. Aber die Masse der Menschen hat real wenig bis gar nichts von den Projekten. Also von Programmen und Studien, die good governance fordern, Nachhaltigkeit für die Umwelt, Emanzipation der georgischen Frauen oder gleiche Rechte für Schwule und Lesben – den bekannten Kanon der EZ mithin. 
„It is money for nothing“, wie eine langjähriger Offizier des georgischen Militärs meint, der heute für einen Sicherheitsdienst arbeitet. „Einige der Programme aus dem Westen propagieren die Alphabetisierung von Frauen und Männer in Georgien“, so Levan, der schon erwähnte Studenten-Aktivist. „Aber das ist nicht unser Problem. Die Menschen hier können schreiben und lesen. Viel wichtiger sind Arbeitslosigkeit und Obdachlosigkeit, fehlende Wohnungen, für die viel zu wenig geschieht.“

Die Kleie dort, das Mehr hier.

Der Sattel bleib mir im Algeti,

das Zaumzeug im Aragwi,

Gott lasse euch alle erfolgreich sein,

die ihr auf einem Platze sitzt.

 

Auch Rainer Kaufmann, ein in Tiflis beheimateter deutscher Journalist und Autor für die ‚Kaukasische Post‘ (hier), der deutschsprachigen Monatszeitung für den Südkaukasus, fällt dieser ungleiche Diskurs zwischen gutmeinenden Gebern und bisweilen devoten Einheimischen auf. Er verweist in einem seiner jüngsten Artikel auf ein Benimm-Seminar, bei dem angehende georgische Diplomaten und Wirtschaftsvertreter sich einem Knigge-Seminar für Soupers und Diners unterziehen, um bei Tisch gegenüber Vertretern aus dem Westen keinen Fehler von der Etikette her zu machen. Alles im Rahmen offizieller Förderprogramme auch hier, versteht sich.

Somit bleibt dies ein langer Weg. Genauer die Anbahnung zwischen Georgiern und ihren (Sicherheits)Garanten aus dem Westen. Für meinen eigenen Berufsbereich, die Medien, ist zu sagen. Ein wunderbar bebildertes Informations-, Foto- und Videofilm-Portal wie Chai Khana (hier; dt. Teehaus), 
das Erzählungen aus sämtlichen Kaukasus-Republiken zusammenträgt und mittlerweile preisgekrönt ist, ist ebenso wenig ein unabhängig funktionierenden autochthones Medium wie Open Caucasus (hier), eine website, die vielen jungen Georgiern als kritisch Medium gilt. In beiden Fällen bestimmen freilich westliche Fördergelder Agenda und Inhalte, legen west-europäische Chefs und Chefinnen ihren georgischen Journalisten-Kollegen gegenüber die Themen fest. Ein Georgian Footprint, sofern er ernst gemeint ist, sieht anders aus.
Dies kann, wie ich aus vergleichbaren Konfliktregionen dieser Welt lernen durfte, allein die Zeit regeln. 
Für Georgien hat man derweil den Begriff der emerging democracy gefunden. Fraglos hängt der weitere Weg dahin von der politischen Großwetterlage in der Region ab. Der Krieg in der Ukraine bestimmt die Optionen für Georgien mit, er hat sie eingeschränkt zuletzt, mehr als vielen Georgiern bewusst oder lieb ist. Einen raschen Beitritt zur EU und zur NATO, den sich viele sehnlich wünschen, wird es angesichts des sich nach wie vor verfinsternden Himmels über dem Donbass und der Krim vorerst nicht geben.
Immerhin gilt seit wenigen Wochen für Georgier Visa-Freiheit nach Europa, in die Europäische Union und eine Anzahl weiterer assoziierter Staaten. Skeptiker unken, man solle nun acht geben, wieviele der Reisenden zurück in den Kaukasus kehrten. Womöglich wird aber weniger versteckte Arbeitsmigration das Thema sein. Dass viele der im Ausland lebenden Georgier wichtige Transferleistungen an ihre Angehörigen und Großfamilien zuhause liefern, ist bekannt. Insbesondere auf die junge georgische Elite, die etwa mit Stipendien im Ausland studiert, fällt ein Augenmerk. Möglich, dass einige von ihnen auf die Rückkehr in die Heimat brennen. Aber nicht zurück sollen. Weil man weiss, was man zuhause vorerst an ihren Transferleistungen hat.

Die Sonne ist meine Mutter,
und der Mond mein Vater,
Die leinen Sternchen aber
Meine Geschwister.

Werden wir irgendwann
in einer Welt leben, die unser Haus ist?
Wir der Kaukasus irgendwann wieder unser Haus sein?

Die Gegenwart georgischer Märchen scheint übrigens durchaus spezifisch für Georgien und die Georgier zu sein. Als Beleg zitiert Tilman Spreckelsen in der FAZ die Allgegenwart von Rustawelis Epos ‚Der ewige Ritter im Tigerfell‘, das bekannteste Werk des Landes und ein achthundert Jahre alter Versroman.  Glaubt man dem Autor hat sich das „Epos bis in die Gegenwart tief in das Bewußtsein der Bewohner seines Landes eingegraben und ist zugleich unübersehbar im öffentlichen Raum“, womit Bezüge in Museen, Theatern und Illustrationen gemeint sind.  Fortsetzung folgt: Georgien wird dann Gastland auf der Frankfurter Buchmesse im nächsten Jahr sein.

Nachtrag:
Am 15. Mai, wenige Tage nach der Begegnung mit den Aktivisten von Auditorium 115, kam es an der Tifliser Universtität und in der Philharmonie zu dem erwarteten Aufeinandertreffen der beiden Gruppen, die jede für sich eine Vision des georgische Traums beanspruchen. Wie zu erwarten versuchten die Vertreter der regierenden Koalition ‚Georgischer Traum‘ dabei die protestierenden Studenten als Neo-Kommunisten zu brandmarken. Es blieb bei Handgreiflichkeiten, wie Berichte (hier) und Videos (hier) zeigen. Unübersehbar aber: der Streit um die Reform der Verfassung, die ungleiche Besteuerung und die Kritik am neo-liberalen Kurs der Regierung dürften dem Land einen heissen Sommer bescheren.

Ein Grund meiner Reise nach Georgien war das Kolga Foto Festival in Tiflis/Tiblissi (hier), das seit ein paar Jahren im Mai stattfindet und inbesondere deutsche und georgische Autoren, Kuratoren und Fotografen zusammenbringt in dem Versuch, individuelle Bildsprachen im Kontext verschiedener visueller Traditionen und Annäherungen zusammenzubringen und darüber einen neuen Diskurs entstehen zu lassen.
So entstand auch der Kontakt zu Jewgeni Roppel und dem Ostlook-Projekt (s. hier) seiner Kollegen/innen. Das Ostlook-online Magzain für zeitgenössische Fotographie ist in Deutschland beheimatet, seine Initiatoren verbindet vor allem, dass sie verschiedene Wurzeln nach Russland und in die post-sowjetischen Länder haben bzw. sich für neue Bildsprachen über diese interessieren und ausstellen.  So ist auch die folgende Bildreportage über Eindrücke meiner Reise für Ost-Look entstanden, das wiederum Fragmenten georgischer Poesie und Gedichtkunst aus vor- und nachchristlicher Zeit aufnimmt, wie oben bereits eingeführt.

 

ZAUNKÖNIGE DER WIRKLICHKEIT  / oder: eine Variante des georgischen Traums


Im Wäldchen war ein Vogel gestorben,
ich legte ihn auf den Zaun, da war er vertrocknet,
ich nahm ihn herab, da war er verfault:
in einen grossen Kessel passte er nicht,
in einem kleinen war er zu winzig:
hundert Leute konnten ihn nicht aufessen,
er war ein Bissen für einen Mann.

Es war und war auch nicht.
Eine singende Drossel.
Gott ist groß, 
der Mensch ist klein.

Das Mädchen floh vor ihm, un der junge Mann verfolgte sie.
Hinterdrein
rannte tatsächlich die alte Frau.
Sie gelangten ans Meer.
Das Mädchen 
flog hinüber.
Der junge Mann blieb da.

Sie gingen zu dem armen Mann und sahen,
dass er wirklich reich geworden war. Der Mann sprach:
„Ich war arm, aber jetzt geht es mir nicht schlecht.“
So ist es, dachte das Glück: Laß mich arbeiten, gib mir
ein gutes Los und wirf mich auf den Mist!

Die Not habe ich dort weggeworfen,
die Freude hierhergebracht,
die Kleie habe ich dort weggeschüttet,
die Körner hierangebracht.

Das Wasser schwemmte reife Wildbirnen heran.
Da sprang der Bär 
wütend auf,
schlug mit seiner Pranke von oben auf den Kornelkirschbaum 
und riß ihn nieder.
Daher kommt es, dass die Kornelkirsche seitdem nicht 
mehr hoch wachsen kann.

Einige Jahre vergingen,
da begegnete das Glück dem Schicksal 
und fragte:
Was hast du erreicht, hast du den Mann mit deinen fünf Maneti
reich gemacht?

In den Wald ging ich heimlich,
fällte einen Baum für einen Pflug.
Mögen euere Feinde und Verräter
alle krank werden.

Die Kleie dort, das Mehr hier.
Der Sattel bleib mir im Algeti,
das Zaumzeug im Aragwi,
Gott lasse euch alle erfolgreich sein,
die ihr auf einem Platze sitzt.

Ich will dir einen Geschichte erzählen,
darein werd ich nicht mischen
weder Lüge noch Wahrheit.
Wenn ich euch gelangweilt habe,
nehmt es mir nicht übel.

Oh Gott, gib mir der Liebenden Durst,
der bis zum Tod währt.
Der wahrhaft Liebende ist jener,
der eine Welt erträgt.

Wer nicht von Sinnen ist, traut keinem,
der über seine Liebe sich beklagt.
Die Löwenjungen sind dem Löwen gleich,
ob sie nun Löwin oder Löwin seien.