Brüchige Basis, programmiertes Chaos?: Zum BAP für Afghanistan

Hier meine erste Analsyse des sog. Bundesaufnahmeprogramms für Afghanistan, dass die Bundesregierung am 17. Oktober publik gemacht hat_
https://www.ipg-journal.de/rubriken/demokratie-und-gesellschaft/artikel/bruechige-basis-6314/

Die Version hier im IPG-Journal ist die gekürzte Version.
Die volle Version meines Beitrags unten und noch ein Interview im Bayerischen Rundfunk (hier) zu Thema.

Chaotischer Beginn, brüchige Basis:
Geburtsfehler, Alleingänge und Folgen des Bundesaufnahmeprogramms Afghanistan

Verwirrung, Unmut, Rätselraten und Chaos – so stellt sich, knapp einen Monat nach Verkündung des Bundesaufnahmeprogramms für Afghanistan die Stimmung unter Menschenrechtsaktivisten und betroffenen Afghaninnen und Afghanen dar. Das Programm der Bundesregierung sei unausgegoren, intransparent und voller Widersprüche, so die Kritik. Es bedürfe dringend der Nachbesserung. Sonst drohten wichtige Akteure der Zivilgesellschaft gar nicht erst teilzunehmen. Ohne diese aber dürfte es der Bundesregierung schwer fallen, die Aufnahme von bis zu 40.000 Afghanen und Afghaninnen wie geplant bis Ende der Legislaturperiode durchzuführen.

Man muss kein Adept einer offenen Einwanderungspolitik sein, um festzustellen, dass das Bundesaufnahmeprogramm vor handwerklichen Fehlern strotz, die eine Umsetzung von Anfang an erschweren dürften. Bewährt sich dabei das neue Bündnis aus Politik und Zivilgesellschaft, auf das die Bundesregierung setzt? Hilfsorganisationen und Vereine sollen eigentlich Dreh- und Angelpunkte bei der Aufnahme von bis zu 1.000 Personen im Monat sein. Möglich aber ist, dass sich dies als Wintermärchen erweist und der Bund sich verrechnet. Sollte nämlich der Pakt mit der Zivilgesellschaft nicht funktionieren, droht ein Rückschlag bei Migrations- und Integrationspolitik. Über Monate vertagte Konflikte brechen bereits jetzt neu auf. Aus dem Chaos könnte ein politischer Krimi werden. Dann nämlich, wenn fehlende Transparenz und mangelnder Wille Menschen am Hindukusch erneut zu Opfern politischer Widersprüche machen.

Zur Zeit zögern etwa Pro Asyl und Kabul Luftbrücke dem Programm beizutreten, zwei der maßgebenden Akteure bei der Aufnahme bedrohter Afghanen seit letztem Jahr. Andere Hilfsorganisationen bezweifeln, ob das Programm afghanische Aktivisten gezielt vor der Gewalt der Taliban retten kann. Zu befürchten sei vielmehr eine Lotterie unter Zehntausenden registrierter Fälle der letzten Wochen und Monate. Chancen auf Aufnahme hätten dabei vor allem Afghanen, die bereits auf der Liste deutscher Hilfsorganisation stünden. Auch sie müssten aber unter Umständen Jahre auf ein Aufnahme warten.

Selbst die zuständigen Ministerien – Bundesinnenministerium (BMI) und Auswärtiges Amt (AA) – gestehen die Mängel im Programm ein. Warum dann das unfertige Werk zum jetzigen Zeitpunkt? Der Schaden in politischer Kommunikation ist offenbar. Mehrmals wurde das Aufnahmeprogramm vor allem wegen des Ukraine-Kriegs verschoben. Nun will die Ampel beim Schutz von Migration und Menschenrechten punkten. Fraglich nur, um welchen Preis?
 Das Bundesaufnahmeprogramm sieht folgendes Verfahren vor: Zielgruppe sind besonders gefährdete Menschen aus Afghanistan: Aktivisten für Frauen- und Menschenrechte, aus den Bereichen Justiz, Politik, Medien, Kultur und Sport. Dazu Personen, die sich in Wissenschaft, Bildung oder der LGBTQI-Community besonders exponiert haben und als individuell gefährdet gelten. Oder die aufgrund ihrer Religion verfolgt werden.

Dass Afghanen selbst einen Antrag stellen können, wie von weiten Teilen der Zivilgesellschaft gewünscht, ist nicht vorgesehen. Vielmehr vergibt der Bund das Vorschlagsrecht an meldeberechtigte Stellen der deutschen Zivilgesellschaft. Faktisch wird die Liste dieser Gate-Keeper bislang geheim gehalten. Hier beginnt wohl gravierender Mangel an Transparenz. Wer eine meldeberechtigte Stelle ist, definiert die Bundesregierung. Und zwar auf Basis gemachter Erfahrungen mit Hilfsorganisationen, die sich seit letztem Jahr für Afghanen in Not engagieren. Diese sollen für den Bund die nötigen Informationen der Menschen sammeln und anschließend in ein IT-Portal der Bundesregierung eingeben. Dieses errechnet dann, auf Grundlage eines Punktesystems und mit allerlei Algorithmen eine Integrationsprognose für jede registrierte Person. Kritiker halten den Fragebogen, der als Grundlage für Entscheidungen herhält, allerdings in einer Reihe von Punkten für wesensfremd. Individuell überprüfen lassen sich aktuelle Gefährdungslagen ohnehin in vielen Fällen kaum. So dürfte es zu Aufnahmebescheiden und Ablehnungen kommen aufgrund undurchschaubarer Netzwerke statt auf verifizierbaren Wegen.

Und es gibt weitere Hindernisse. So fragen Hilfsorganisationen und mit der Materie befaßte Juristen nach Antworten, welche der vorliegenden Namens-Listen in welcher Reihenfolge bedient werden. Auf dem Tisch liegen ältere Fälle von Ortskräften, die unverändert auf Evakuierung warten. Daneben Tausende Fälle, die vor Verkündung des Aufnahmeprogramm eingegangen sind. Drittens Zehntausende neuer Fälle, in denen sich Afghanen seit Verkündung des Programms am 17. Oktober über Internet bei Organisationen wie Kabul Luftbrücke, Reporter ohne Grenzen oder Mission Lifeline registriert haben. Der Andrang im Netz war so groß, dass die Links zur Registrierung, die lediglich eine erste Evaluierung ermöglichen sollen, vorerst wieder abgeschaltet sind.

Diese hohen Zahlen erschweren das Dilemma zusätzlich. Denn Organisationen wie Pro Asyl und Kabul Luftbrücke wollen, wie sie sagen, nicht in die Rolle des Gate-Keepers kommen, der die grosse Masse von Antragstellern ablehnen muss. Problematisch dabei: das Sammeln, Filtern und Übermitteln von Informationen durch meldeberechtigte Stellen an Bundesregierung und -behörden beinhaltet, nach Auffassung von Juristen, auch die Überantwortung hoheitlicher Aufgaben. Es bedürfte mithin einer rechtlichen Grundlage. Diese aber fehle bislang.
 Manch meldeberechtigter Helfer fürchtet so, für Sammlung und Klassifizierung der personenbezogenen Daten in Haftung genommen zu werden. „Was, wenn sich herausstellt, das sich jemand, der sich als schwul meldet, nicht der LGBTI-Community angehört?“, so ein Helfer. „Werden wir dann als Organisation mithaften? Was, wenn die Person straffällig wird in Deutschland?“
 Es sei ihm unerklärlich, so ein Jurist, wie sich Teile der Zivilgesellschaft, auf diesen Deal mit der Bundesregierung eingelassen hätten. Fragen mit schwerwiegenden Folgen drohten, auf die Zivilgesellschaft abgewälzt zu werden.

Betreibt die Bundesregierung, wie Kritikern meinen, also mit dem Programm ein fragliches Out-Sourcing von Zuständigkeiten.
 Hilfe bei der Bearbeitung aller Fälle soll eine neue Koordinierungsstelle leisten. Sie soll Fördergelder von rund drei Millionen Euro und rund ein Dutzend hauptamtliche Mitarbeiter bekommen. „Auch damit aber lässt sich so ein Mammutprojekt nicht stemmen“, so der juristische Berater eines betroffenen Vereins, der ungenannt bleiben möchte.

Ein Riesenproblem bei dem Plan: vielen Hilfsorganisationen fehlen Personal und Mittel, um einlaufende Anfragen über längere Zeit effektiv zu bearbeiten und zu betreuen. Bereits jetzt melden eine Reihe von ihnen, sie seien an der Grenzen ihrer Kapazitäten. Der Austausch von Zivilgesellschaft zum Bund müsste aber über die gesamte Zeit verläßlich sein, um belastbar zu sein. Dafür fehlen, neben der Koordinierungsstelle, bislang finanzielle Mittel und Stellen. Betroffene fragen daher: Müssten nicht Teile der Zivilgesellschaft, die der Regierung Arbeit abnehmen, Gebühren bekommen für ihre Leistung, so wie etwa der TÜV für seine Inspektionen honoriert wird?

Das Vertrauen in die Bundesregierung werde so weiter beschädigt, so stimmen auf Seiten der Zivilgesellschaft. Man „betrachte es politisch als äußerst problematisch und als Zumutung, dass diese Regierung die erneute Auswahl und Meldung der Fälle der Zivilgesellschaft überlässt“, so eine Stimme bei der Luftbrücke Afghanistan. „Dies bedeutet nämlich nicht nur, dass wir alles neu aufbereiten und eingeben sollen. Es bedeutet auch, dass die Bundesregierung die ethisch schwierige Entscheidung, ob einem Menschen geholfen wir, auf uns abwälzt, und damit auch die Aufgabe, dies gegenüber den Betroffenen zu rechtfertigen. „

So verweisen meldeberechtigsten Stellen mittlerweile auf andere meldeberechtigte Stellen. Keiner möchte den „schwarzen Peter“ weiterer Anfragen, die er/sie nicht bearbeiten kann, ganz offenbar. Als kleine Initiative könne man das nicht stemmen und müssen auf andere verweisen, so der Tenor bei der Luftbrücke Afghanistan. Man kümmere sich nur noch um wenige, sehr akute Einzelfälle aus den eigens eingereichten Listen – mehr gehe nicht.

Man wolle im Übrigen nicht seine Enttäuschung über die Bundesregierung verhehlen, die vor allem auf grundsätzliche Punkte zurückgehe. So empfinde man es einerseits als unfassbar ignorant und arrogant, dass dass das Auswärtige Amt zehntausende aufbereitete und längst eingereichte Fälle ignoriere.

So hatte die Initiative im August 2021 dutzende Fälle an das Auswärtige Amt gesendet, von denen viele nicht berücksichtigt worden, möglicherweise nicht einmal angeschaut worden seien. „Bis zu 70 Freiwillige“, heißt es, „haben in der Folgezeit die bei uns eingegangenen rund zehntausend Fälle gesichtet und die dringlichsten 1785 Fälle über das Büro der Menschenrechtsbeauftragten in das Auswärtige Amt gesendet. Diese Dateien werden nun wohl nicht einmal geöffnet werden, denn: das BAP ist da, und wer bedrohten Afghan:innen helfen will, muss halt noch einmal alles neu aufbereiten und eingeben.“

Nach dem Programm soll nur Aufnahme in Deutschland finden, wer sich bei Antragstellung in Afghanistan aufhält. Afghaninnen, die sich aufgrund früherer (deutscher) Zusicherungen bereits in Nachbarstaaten wie Iran oder Pakistan befinden, wären damit ausgeschlossen. Menschenrechtler halten das für höchst problematisch. Denn Personen zur Rückkehr nach Afghanistan aufzufordern, dürfte den Betroffenen kaum zuzumuten sein. Diese Drittstaatenregelung sei höchst problematisch, sagen Juristen folgerichtig. Sie betreffe zudem eine hohe Zahl von Personen in Not. So drohe gefährdeten Afghanen, die sich zur Zeit mit oder ohne alle Papiere in Pakistan aufhielten, die Abschiebung zurück in ihre Heimat. Fakt ist auch, dass die De-facto-Machthaber in Afghanistan zur Zeit keine Pässe ausstellen. Falls doch, müssen nicht selten Schmiergelder dafür aufgebracht werden.
Hinzu kommt die zunehmend angespannte Lage im Iran. Was, wenn Deutschland von dort Aktivisten und Menschen aufnehmen müsste? Stünde die Anzahl der Afghanen im Aufnahmeprogramm dann womöglich zur Disposition in der ein oder anderen Form? Was ist mit Afghanen im Iran, die dort Opfer der jüngsten Unruhen wurden und werden? Die Bundesregierung braucht eine Lösung auf all diese Fragen. Je eher, desto besser. In Kabul, berichtet die Taz, betreiben mutmaßliche Betrüger unter dem Label IOMA derweil ihr Unwesen mit dem Bundesaufnahmeprogramm. Mission-Lifeline, heißt es, habe die mutmaßlichen Betrüger konfrontiert. „Was machen Sie? Versuchen Sie, Plätze im deutschen Aufnahmeprogramm zu verkaufen?“ Eine Antwort blieb aus. Spuren der mutmaßlichen Betrüger führen nach Argentinien. Abwarten und unklare Kommunikation der Bundesregierung erleichterten Betrügern das Geschäft,  so die Kritik.

Zur Verwirrung trägt auch bei: Bis heute steht es auf der Webseite der Bundesregierung zum Menüpunkt „Aufnahmeanordnung“, dass eine solche in Kürze veröffentlicht werde. Dies steht aus. Eine Anordnung ist nötig, so Juristen: „Ohne eine Bundesaufnahmeanordnung keine gesetzliche Grundlage, damit das Auswahlverfahren tatsächlich losgehen kann.“
All diese Unsicherheiten bleiben nicht ohne Wirkung auf die Betroffen. Die Verwirrung unter Afghanen und Afghaninnen ist groß. Helfer entschuldigen sich zugleich bei Ortskräften, die gehofft hatten, das Aufnahmeprogramm würde ihre Familienzusammenführung erleichtern. Diese ist zwar – z.B. was Härtefälle angeht – möglich und erweitert worden. Allerdings in erster Linie für Fälle aus den neuen Listen, wie es heisst. Welche Härtefälle durchkommen, wirft weitere Fragen auf. So kritisieren zivile Helfer, dass vor allem die Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) bislang über solche Fälle mitentschiede. Die GIZ ist eine regierungsnahe Organisation, nicht Zivilgesellschaft im eigentlichen Sinn. 
 Konfrontationen zwischen Politik und Zivilgesellschaft sind so vorprogrammiert.

Die gewünschte Zusammenarbeit erscheint schon zu Beginn brüchig, von Regierungssteite erscheint sie mehr behauptet und erwünscht als real und konkrete belastbar. Die nächsten Wochen werden zeigen, wie beide Seiten der Verantwortung für die Menschen in Afghanistan gerecht werden. Fakt ist: das Quorum von 1.000 Personen pro Monat ist ein politischer Gnadenakt, kein Rechtsanspruch. Gefährdete Afghanen können womöglich noch auf Aufnahmeprogramme der Länder hoffen. Schleswig-Holstein, Bremen, Berlin, Thüringen und Hessen haben solche beschlossen, ergänzend zum Aufnahmeprogramm. Auch hier bedarf es der Zustimmung des Bundes. Unklar ist auch hier, ob und wann diese kommt. Für Thüringen, immerhin, scheint die rechtliche Grundlage bereits geschaffen, heisst es.

weitere erste Einschätzungen zum Programm:
https://berlin-hilft.com/2022/10/17/afghanistan-bundesaufnahmeprogramm-viele-fragen-kritik-bewertung/
https://thruttig.wordpress.com/
https://b-umf.de/src/wp-content/uploads/2022/10/bundesaufnahmeprogramm-afghanistan-infoblatt.pdf