SPIEGEL-Story: Frauen in Afghanistan. Co-Recherche & Fotobuch

Der Spiegel hat seit Sonntag, 16. März, die folgende Geschichte mit meinter Co-Recherche und Motiven meiner Bilder aus dem Fotobuch Finding Afghanistan online
https://www.spiegel.de/ausland/frauen-in-afghanistan-wir-sind-wie-lebende-tote-a-aa8a084a-b0c2-4255-a0d5-0fe1bf6f97d4?giftToken=1db74664-27ba-4148-912c-73f7817e6e43

Anders als es den Eindruck macht im Beitrag, ist das Buch nicht mehr im Handel erhätlich. Es kann seit Ende letzten Jahres nur über meinen eigenen Vertrieb bezogen werden, und zwar unter mar.gerner+Fotobuch@gmail.com

Eine Website mit einem Buchshop für Finding Afghanistan ist in Planung.
Solange können Sie und könnt ihr die o.g. Email am Besten nutzen. Ich stelle Ihnen und euch dann gerne den Band nach Bestellung direkt zu. Ein Trailer ist hier
https://www.3sat.de/kultur/kulturzeit/buch-tipp-finding-afghanistan-100.html



Frauen in Afghanistan»Wir sind wie lebende Tote«
Sie waren Managerinnen, Studentinnen, einflussreiche Journalistinnen. Bis die Taliban zurückkamen und ihnen die Freiheit nahmen. Der SPIEGEL bat 13 Afghaninnen aus dem ganzen Land, ihre Geschichten zu erzählen.
Aufgezeichnet von Susanne Koelbl und Martin Gerner (Fotos und Recherche-Assistenz)
16.03.2025, 21.02 Uhr

Vor gut dreieinhalb Jahren, am 15. August 2021, rissen die Taliban in Kabul die Macht an sich und Frauen spielen im öffentlichen Leben jetzt keine Rolle mehr. Mädchen ab zwölf dürfen nicht mehr in die Schule gehen, Frauen sind vom Universitätsbesuch ausgeschlossen. Die Sittenpolizei macht Jagd auf Frauen, sollte aus ihrem bodenlangen Schleier auch nur eine Haarsträhne hervorlugen.
Der SPIEGEL bat Afghaninnen zu berichten, wie sich ihre Lebensrealität unter den neuen Herrschern verändert hat. Illustriert ist der Artikel mit Fotos des Kölner Fotografen Martin Gerner, der viele Jahre in Afghanistan verbracht hat und das Leben dort in seinem Buch »Finding Afghanistan«* festgehalten hat.



Die Peitschenhiebe der Sittenpolizei
Soman Omar, ehemalige Staatsanwältin, heute arbeitslos, möchte ihren Aufenthaltsort aus Sicherheitsgründen nicht nennen.
»Zu den Realitäten unter der Herrschaft der Taliban gehören die Verhaftung, Inhaftierung und öffentliche Auspeitschung von Frauen. Vergangenen Monat sah ich, wie die Sittenpolizei zwei
Mädchen auf der Straße anhielt und beschimpfte. Eine Peitsche zischte über den Körper eines der
Mädchen hinweg. Sie schluchzte und flehte: »Ich werde nie wieder bunte Kleidung tragen! Bitte, lasst
mich gehen! Ich werde das Haus nie mehr verlassen, ich schwöre es – lasst mich einfach gehen!«
Doch der Taliban schlug noch härter zu. Ich rannte los und floh durch die Menge der Männer, die
tatenlos zusahen. Und die Welt? Sie schaut sich diese Bilder hinter Fernsehbildschirmen an und in
den Feeds der sozialen Medien, schüttelt den Kopf und sagt: »Was für eine Tragödie.«
»Ich habe mich selbst verloren«

Hanifa Rasikh, 28, Kabul, früher im Bereich Mikrofinanzen tätig und als Sozialarbeiterin, heute
arbeitslos:
»Was ich verloren habe? Die Freiheit zu arbeiten, eine Meinung zu haben, mich fortzubilden und
mich zu kleiden, wie ich es möchte. Früher habe ich in ausländischen Institutionen und
Organisationen gearbeitet, wegen der Taliban verlor ich meinen Job. Die Taliban lehnen die
Zusammenarbeit von Frauen mit ausländischen Organisationen entschieden ab. Genaugenommen
habe ich mich selbst verloren und lebe seither in ständiger Angst. Einst war ich der einzige Verdiener
in meiner Familie. Jetzt habe ich kein Einkommen mehr. Meine Zukunft ist völlig ungewiss.«
Verrückt vor Angst

Zahra Atlas, 14, lebt in Kabul.
»Mein Vater hatte für die frühere Regierung gearbeitet. Als die Taliban 2021 die Macht übernahmen,
verschwand er. Die Leute tuschelten, dass die Taliban Regierungsmitarbeiter verhaften und diese
hingerichtet würden. Wir wurden fast verrückt vor Angst um meinen Vater.
Dann, nach einer gefühlten Ewigkeit, rief er an. Seine Stimme war schwach. Er erzählte uns, dass er
verhaftet worden war und mit einem Berufsverbot belegt wurde.
Journalistin bei einem Interview: »Wie zerbrechlich ist doch die Freiheit?«
Endlich kehrte er zurück und der Hunger nagte an unseren Mägen. Mein 14-jähriger Bruder und mein
Vater sind seither nach Iran gegangen, um Arbeit zu finden.
Wir haben alles verloren und kaum genug zum Überleben. Doch ich träume noch immer davon,
einmal eine Führungspersönlichkeit zu werden, eine Stimme für die afghanischen Mädchen und
Frauen. Hoffnung kann niemals völlig ausgelöscht werden. Oder?«
»Ich mische mich nicht ein«

Zarghoona Salehi, Journalistin aus Kabul.
»Frauen ist es nicht mehr erlaubt, in Parks zu gehen. Fast alles ist verboten, was früher
selbstverständlich war. Ich hatte Glück. Meinen Bachelor-Abschluss habe ich im Jahr 2021 gemacht,
während des politischen Systemwechsels im Land. Was wir früher in der Öffentlichkeit teilten, ist
jetzt im privaten Raum verschwunden. Derzeit arbeite ich bei einer Nachrichtenagentur als Leiterin
der Frauenredaktion. Das macht mich glücklich, trotz der Einschränkungen. Aber ich mische mich
auch nicht in die Politik ein.«
»Was ist unser Verbrechen?«

Sonia Rahimi, 24, ehemalige Studentin der Ingenieurswissenschaften, Onlinelehrerin, lebt in Herat.
»In der Vergangenheit saßen die Frauen und Mädchen in Herat im Café oder sie spazierten durch die
Parks. Meine Freundinnen und ich versanken in der Bibliothek stundenlang in der Welt der Bücher.
Wir gingen mit unserer Mutter nach dem Gebet in den Frauenpark, tranken Tee, aßen Obst. Die
Frauen erzählten sich Geschichten, auch die schmerzlichen. Der Park mit den Frauen war wie ein
Krankenhaus, in dem meine Mutter all die psychischen Leiden ihrer Freundinnen kurierte durch
Reden und Zuhören.
Frauen im öffentlichen Raum: »Wenn heute Familien ihre Feste feiern, darf der Klang von Musik und
Gelächter nicht nach draußen dringen«

Wenn ich damals morgens mein Zimmerfenster öffnete, blickte ich auf den Park und sah Frauen, die
dort voller Begeisterung sportlich trainierten. Ich sah die Jugendlichen auf der Straße, die mit
schwarzen und weißen Uniformen zur Schule gingen. Die Stadt brodelte.
Wenn heute Familien ihre Feste feiern, darf der Klang von Musik und Gelächter nicht nach draußen
dringen, sonst werden die Familienoberhäupter verhaftet und eingesperrt. Es ist mir verboten,
überall dort hinzugehen, wo ich gern hinging: Schule, Universität, Dienst, Parks, Restaurants,
Schönheitssalons, Feiern, Klubs, Bibliotheken. Nur zu Hause zu sein, ist für eine Frau in Ordnung. Was
ist unser Verbrechen? Welche Sünde begehen wir, wenn wir glücklich sind? Wir sind wie lebende
Tote.«

Kaifia Asad, 44, früher Leiterin einer internationalen Schule, heute Onlinelehrerin in Kabul.
»In der vorherigen Regierung gab es Korruption und viele Probleme, aber zumindest wurde sie
gewählt, und wir hatten das Gefühl, dass wir Veränderungen bewirken konnten, wenn auch in
geringem Maße. Wahltage gaben uns Hoffnung, dass sich die Dinge verbessern könnten. Die
Demokratie in Afghanistan funktionierte nicht sehr gut, doch war eine gewisse Beteiligung möglich.
Unsere Stimmen wurden gehört.
Frauen auf dem Weg zur Wahl in Kabul: »Wir haben bei nichts ein Mitspracherecht. Entscheidungen
werden für uns getroffen«
Unter der Herrschaft der Taliban gibt es diese Hoffnung nicht. Entscheidungen werden für uns
getroffen. Das System ist vollkommen autoritär, wir haben bei nichts ein Mitspracherecht.
Wenn ich meine Augen schließe und gut drei Jahre zurückgehe, fühlt es sich an, als wäre diese Zeit
nur ein schöner, unvergesslicher Traum gewesen, als schliefe ich auf einem weichen Kissen der
Erinnerung. Uns ist nur die Hoffnung geblieben und das Gebet auf den Tag, an dem die dunklen
Wolken des Schmerzes verschwinden werd

Saouda Erfani, 22, Lehrerin, lebt in Kabul.

»Jeden Morgen, wenn ich aufwache, halte ich einen Moment inne. Ich versuche zu verstehen, dass
das Frausein jetzt bedeutet, in den Wänden des eigenen Hauses gefangen zu sein. Wage ich es doch,
ohne einen männlichen Vormund hinauszugehen, spüre ich die Blicke, die mich verfolgen, bewerten,
die mich daran erinnern, dass diese Stadt nicht mehr mir gehört. Als hätte ich eine unverzeihliche
Sünde begangen.
Kinder im Kofferraum eines Autos: »Die Kinder verstehen den Wert von Wissen und lernen trotz
allem weiter, vor allem die Mädchen«
Meine Bücher verstauben nun, und das Diplom, auf das ich einst stolz war, ist wertlos geworden –
ein Stück Papier, das keinen Sinn mehr hat. Die Karriere, für die ich so hart gearbeitet habe, wurde
mit einem Federstrich zunichtegemacht. Meine Fähigkeiten bleiben ungenutzt, erstickt unter einem
endlosen Katalog von Verboten. Selbst über mein Aussehen kann ich nicht mehr entscheiden, auch
die Schönheitssalons sind geschlossen. Ich kann nur noch zusehen, wie Männer Gesetze schreiben,
um über unser Schicksal zu entscheiden.«
»Heute herrscht Krieg gegen Frauen«

Mariam Moqqadam, 32, ehemals Studentin der Rechtswissenschaften, jetzt Schneiderin in Kabul.
»Ich habe eigentlich Rechtswissenschaften studiert. Doch jetzt schneidere ich Kleidung, und selbst
diese Arbeit ist nicht gern gesehen von den Taliban. Ich vermisse die Kurse und die Universität. Die
heutige Realität bedeutet Krieg und Gewalt gegen Frauen und ethnische und religiöse Minderheiten.
Auch unter der Regierung von Aschraf Ghani war es alles andere als perfekt. Aber wir konnten
protestieren. Jetzt können wir das nicht.«
»Die Welt, in der wir leben, versucht uns zum Schweigen zu bringen«

Tamseella Tanweer, 38, Redakteurin aus Kabul.
»Ich erinnere mich daran, wie Journalistinnen einst ungehindert in die Nachrichtenredaktionen
gingen und selbstbewusst vor Kameras standen. Der Platz, den sie in der Medienlandschaft
einnahmen, wird nun fast vollständig von männlichen Stimmen dominiert. Afghanische
Journalistinnen müssen sich heute in einer Welt zurechtfinden, die versucht, sie zum Schweigen zu
bringen. Sie sind in private Räume verbannt, werden meist völlig ignoriert und sind von Gewalt und
Bestrafung bedroht. Die Möglichkeit, sich zu äußern, gehört zu werden und einen Beitrag zur
Gesellschaft zu leisten, ist fast nicht mehr existent. Wie zerbrechlich ist doch die Freiheit, wenn es so
einfach ist, einer Frau das Recht zu nehmen, sich auch nur auszudrücken und zu sprechen.«
»Ich bin jetzt gern auf Friedhöfen«

Hala, 26, ehemalige IT-Studentin, arbeitslos, lebt in der Provinz Balkh.
»Ich gehöre zur Gruppe der LGBTQ-Menschen in Afghanistan. Ich kann über meine sexuelle
Orientierung weder mit meiner Familie noch mit sonst irgendwem reden. Es würde mein Leben
gefährden.
Ich habe fünf Semester Informationstechnologie studiert. Doch nun herrscht seit drei Jahren ein
Studienverbot für Frauen. Eine Ausbildung als Hebamme musste ich ebenfalls kürzlich abbrechen,
weil auch diese uns Frauen verboten wurde.
Meine Eltern möchten, dass ich jetzt schnell heirate. Sie lassen nicht locker und drängen mich. Aber
ich möchte selbst entscheiden, mit wem ich lebe. Ich leide deshalb unter Depressionen. Manchmal
habe ich Gedanken, meinem Leben ein Ende zu setzen. Ich bin jetzt gern auf Friedhöfen, ein Ort der
Ruhe. Was ist der Unterschied zwischen einem Grab und meinem Bett, in das ich mich jeden Abend
schlafen lege?«

Madina Naibkhill, 24, Abiturientin, arbeitslos, lebt in Kabul.
»Kinder unseres Landes hatten nie eine Kindheit wie die Jugend entwickelter Länder. Und nun, da
wieder große Armut herrscht, haben unsere Kinder erneut ihre Chance verloren, etwas lernen zu
dürfen. Sie müssen arbeiten. Sie werden früh verheiratet. Diese Kinder verstehen zutiefst den Wert
von Wissen, durch Bildung wollen sie ihre Situation verbessern, und sie lernen trotz aller
Schwierigkeiten, vor allem die Mädchen. Wenn ihnen jemand erlaubt, zu lernen.«
»Das Leben, das wir zurückließen«

Faryal Asadzai, 14, ehemalige Schülerin, lebt in Kabul.
»Es gab eine Zeit, in der Wochenenden in Afghanistan Lachen und die Schönheit der Natur
bedeuteten. Wir packten früh am Morgen, füllten Körbe mit selbst gemachten Speisen, Obst und
einer Thermoskanne mit heißem Tee. Wir fuhren in Richtung Surabhi. Die frische Luft, die sanften
Hügel und unsere gute Laune verliehen diesen kurzen Reisen etwas Magisches. Im Schatten hoher
Bäume saßen wir unter einem großen Tuch im Gras. Wir Kinder liefen herum und spielten, während
die Älteren sich unterhielten und ihren Tee genossen. Die Luft roch nach Erde und Blumen, und der
ferne Gebetsruf aus einer Dorfmoschee trug zur Gelassenheit bei. Es waren Tage des einfachen
Glücks, die Welt schien offen und voller Möglichkeiten.

Dann, plötzlich, wurde uns die Freiheit im Handumdrehen genommen. Frauen durften sich nicht
mehr ohne männliche Begleitung bewegen. Unsere fröhlichen Picknicks wurden zu einer fernen
Erinnerung. Wir fragten uns, wie sie uns so etwas Harmloses wegnehmen konnten. Eines Tages
beschlossen wir, trotzdem ein Picknick zu machen. Nachdem wir eine kurze Strecke zurückgelegt
hatten, sahen wir sie. Die Taliban. Einer von ihnen kam auf uns zu. Seine Stimme war fest und kalt.
»Frauen dürfen nicht weiterfahren«, sagte er. Wir drehten um, geschlagen. An diesem Tag wurde mir
klar: Es ging nicht nur um Picknicks. Es ging um Freiheit, um Freude, um das einfache Recht, das
Leben zu erleben. Die Berge, die Bäume, die Flüsse – sie waren immer noch da, aber wir konnten sie
nicht mehr erreichen.«

Somaia Ahmadi, 16, ehemalige Schülerin, lebt in Kabul.
»Ich nehme meine Uniform aus dem Schrank, ziehe sie an und stelle mich vor den Spiegel. Die Ärmel
sind kürzer geworden, die Größe ist zu klein für mich. 1.203 Tage sind seit der Schulschließung
vergangen. Die Realität ist unerbittlich. Die meisten meiner Freundinnen sind jetzt verheiratet.
Meine beste Freundin Mursal, eine kleine, zerbrechliche Person, sagte vor zwei Jahren: »Meine
Mutter lässt mich nicht mehr mit meinen Puppen spielen. Ich soll heiraten.« Sie schluchzte und flehte
mich um Hilfe an.
Vor ein paar Tagen sah ich Mursal wieder – diesmal mit einem Kind auf dem Arm. Ihr Körper wirkte
noch dünner. Es war ein beunruhigender Anblick: ein Kind, das ein anderes Kind trug. Mursal
brauchte selbst noch Fürsorge einer Mutter, doch jetzt trägt sie die Verantwortung für eine ganze
Familie und ein Baby auf dem Arm.«

Einige Protagonistinnen, heisst es im Spiegel-Online-Original, in diesem Artikel werden von der Bildungsinitiative
https://educategirlsnow.org/ gefördert

Siehe zum Thema auch meine Reportage zum Internationalen Frauentag und der Lage in Afghanistan im Deutschlandfunk,
https://www.deutschlandfunkkultur.de/afghanische-frauen-und-ihre-kultur-des-widerstands-100.html