Terror im Botschaftsviertel: Umdenken bei Abschiebungen nach Afghanistan?

Erstmals seit es das deutsch-afghanische Rückführungs-Abkommen von Ende 2016 gibt ist heute ein Flug mit Kandidaten für die Zwangsabschiebung in Richtung Kabul verschoben worden. Nicht abgesagt, so betont der Innenminister, mit Verweis auf die Priorität der Lage in Kabul.
Die gestrige Explosion in der Hauptstadt Afghanistans ist, wie in Realzeit verbreitete Videoaufnahmen zeigen, eine der verheerendsten in den letzten sechzehn Jahren des Krieges gewesen. Die deutsche Botschaft, die vielen eigentlich als  gut gesichert galt, weil sie aufgrund mehrerer Anschläge seit 2009 vor allem in zentraler Lage immer wieder aufgerüstet worden war, hat es an vielen Fronten massiv getroffen. Ein Afghane, der für einen privaten Sicherheitsdienst das  Botschaftsgebäude in vorderster Reihe schützte, ist dabei ums Leben gekommen. Andere wurden schwer verletzt. Angehörige fuhren von Krankenhaus zu Krankenhaus in den Stunden nach der Explosion auf der Suche nach ihren Angehörigen.
Statt zwangabgeschobene Flüchtlinge am Flughafen von Kabul in Empfang zu nehmen mussten deutsche Diplomaten und Helfer den ganzen Tag lang in Sicherheit gebracht werden, wurden Spuren zum Tathergang gesichert.
Womöglich gilt es, das Konzept zur eigenen Sicherheit der Deutschen und deutscher Gebäude in Kabul, das faktisch jedes Jahr zu immer höheren Mauern und zu mehr Abschottung gegenüber der afghanischen Zivilbevölkerung geführt hat, einmal mehr zu überdenken. Die Diplomatie nimmt, ob sie will oder nicht, in solchen momenten eine Zwangspause.

Sogar einige der massiven Absperrungen aus Stahl und Beton vor den diversen diplomatischen Vertretungen, geschützten Behörden- und Unternehmensgebäuden um den Tatort wurden durch die Druckwelle einfach weggeknickt wie Strohhalme in der Luft oder zerbarsten, zum Teil derart, dass Fußgänger und Fahhradfahrer von durch die Luft fliegenden Teilen getroffen und verletzten wurden. Andere riß die Druckwelle wie ein plötzlicher Orkan vom Fahrrad und schleuterte sie gegen Betonmauern, wie zahlreiche Video-Aufnahmen zeigen.
Für die Einwohner von Kabul, das sich über mehrere Kilometer in alle Himmelsrichtungen vom Zentrum des Anschlags aus erstreckt, war die massive Druckwelle fast in der ganzen Stadt körperlich zu spüren, zu hören und leicht zu sehen aufgrund der immensen Rauwoke, die Sekunden darauf in den Himmel aufstieg und dort minutenlang wie ein drohendes Zeichen zu sehen war.
„Dieser Anschlag betrifft die Sicherheit und das Sicherheitsgefühl aller im ganzen Land“, so ein afghanischer Angestellter. Einmal mehr sorgten sich Eltern über den Heimweg ihrer Kinder von der Schule, entlang an staatlichen Gebäuden und an Knotenpunkten des Kabuler Mittagsverkehrs. Lotfullah Najafizada, ein Kollege und Leiter der Nachrichten-Abteilung von Tolo TV, dem bekanntesten Fernseh-Sender im Land, vermisste noch im Verlauf des gestrigen Tages sieben seiner Journalisten-Kollegen. „Ich bin wohlauf“, schreibt mir ein Kollege aus dem Präsidentenpalast, der ebenfalls nah am Anschlagsort liegt und von der Explosion erschüttert wurde, „aber zwei meiner Kollegen sind bei dem Anschlag ums Leben gekommen. Morgen früh gehen wir sie beerdigen.“

Heute früh waren vor allem Unternehmen und Lieferer für Glas- und Fensterscheiben gefragt. „Sogar gepanzerte Scheiben von Bank-Filialen in sicherer Entfernung, einen halben Kilometer entfernt, hat es in Mitleidenschaft gezogen. Wir sind umgehend in unseren Sicherheitsbunker, als wir die Detonation gehört haben“, so der langjährige Angestellte einer deutsch-afghanischen Hilfsorganisation. „In Sharak Ariya, einem Viertel Kabuls weit außerhalb des Zentrums haben Lehm- und Holzhütten noch die Erschütterungen gespürt“, beschreibt er den allgemeinen Kontroll- und Vertrauensverlust, der mit dem Anschlag einhergeht. Der Anschlag sei überall Tagesthema heute, es herrsche eine spürbare Trauer, und das erneute Gefühl, dass die sogenannte Regierung der nationalen Einheit aus Präsident Ghani und seinem faktischen Premier Abdullah Abduallah einmal mehr versagt habe. Die beiden Lager innerhalb der Regierungs-Koalition gelten vielen Afghanen mittlerweile als derart verfeindet, dass sie jeder Anschlag auch möglichen Sicherheitslücken zugerechnet wird, das sich aus diesem Verhältnis zunehmenden Mißtrauens ergibt. Obwohl es noch kein offizielles Bekennerschreiben gibt: viele Menschen vermuten das Haqqani-Netzwerk oder die Taliban als Urheber. Ein schlechtes Zeichen für die weiteren bevorstehenden Vorgespräche zu dem, was im Idealfall mit viel Zeit zu einem echten Friedensprozess führen könnte, an dem an einem Tag wie heute allerdings keiner so recht denken mag. „Meine Familie, Frau und Kinder, fürchten sich jetzt mehr als bisher auf die Strasse zu gehen in Kabul“, so der langjährige deutsch-afghanische Helfer. „Es wird immer schlimmer. Ich persönlich meine, dass Deutschland dies bedenken sollte, und von Abschiebungen hierher absehen sollte.“

Die Dringlichkeit einer Debatte über den Sinn und die Rechtmäßigkeit von Abschiebungen macht dies nur umso augenfälliger. Der erneute Anschlag in Kabul kommt jedenfalls nicht überraschend. Er zeigt nicht nur, dass die Leidtragenden am Hindukusch erneut vor allem die zivile Bevölkerung ist. Er belegt auch, dass und wie wenig es Sinn macht zwischen Diplomaten und nationalen Behörden einerseits und der übrigen Bevölkerung eine Trennlinie zu ziehen, wie Bundesinnenminister de Maizière dies unlängst getan hat.
Nach menschlichem Ermessen müsste die Bundesregierung – zumal sie selbst möglicherweise mit ein Ziel des Angriffs war, so Mutmaßungen am heutigen Tag – auch eine neue Bewertung der Sicherheitslage in Kabul aus Berliner Sicht vornehmen. Bisher galt für die Abschiebeflüge und nach offizieller Sprachregelung insbesondere Kabul als hinreichend sicher für Rückkehrer auf Abschiebeflügen. Durch die heutigen Ereignisse bekommt die Debatte neue Nahrung. (siehe dazu auch die neue gemeinsame Stellungnahme von Amnesty International, Arbeiterwohlfahrt, Arbeitsgemeinschaft Migrationsrecht im Deutschen Anwaltverein, Paritätischem Gesamtverband, Deutscher Diakonie, Neuer Richtervereinigung und PRO ASYL u.a., hier; eine der wenigen Gegenpositionen in den deutschen Leitmedien des Tages) . In dem Schreiben sind auch wiederkehrende und offenbar systematische Mängel und Fehler des BAMF bei der Annahme, Beurteilung und finalen Entscheidung abgelehnter Asylrechtsanträge u.a. von Afghanen thematisiert.
Im Ergebnis, so das de Maizière-Ministerium, sollen jetzt Zehntausende von Asylentscheidungen der letzten beiden Jahre überprüft und ggf. korrigiert werden.  Angesichts der defensiven Haltung in Sachen BAMF zuletzt kommt dies einem Offenbarungseid gleich. Nachdem nun auch SPD-Kanzlerkandidat Schulz für einen vorläufigen Abschiebestopp plädiert, bekommt das Thema neue Nahrung und wird den Wahlkampf noch stärker als bisher mitbestimmen, auch weil Deutschland Altlasten aus dem Afghanistan-Konflikt mit sich herumschleppt.
Die US-amerikansiche Seite und das Trump-Lager (!) debattierten derweil über eine erneute Truppen-Verstärkung in Afghanistan. Diese würde allerdings nach derzeitigem Stand vor allem Gefahr laufen, die Fehler der vergangenen Jahre zu wiederholen.

So könnten Sicherheitsvorkehrungen an vielen Behörden und offiziellen Gebäuden in Zukunft noch vermehrt aussehen.
Das Foto, das von 2009 stammt, spiegelt eine Entwicklung der Abschottung aus Sicherheitsgründen, die als Folge der Anschläge um sich greift und zu einer teilweisen Gentrifizierung ganzer Stadtviertel geführt hat, u.a. des sog. Botschaftsviertels, wo der Anschlag staffand.

Aufklärung und Länder-Information über Afghanistan, die Sicherheitslage und die Fluchtursachen tut Not in diesen Zeiten, zumal nach wie vor sehr wenig über gesellschaftliche Zusammenhänge in Afghanistan bekannt ist. Ich spreche und diskutiere dazu auf mehreren Panels und Foren in den kommenden Tagen und mit den genannten Institutionen
als Afghanistan-Regionalexperte des Journalists.Network, Deutschlandfunk- und ARD-Autor, der seit Jahren Korrespondenzen aus dem Kriegsgebiet liefert sowie als Blogger für das Afghanistan Analysts Network:

06. Juni, Afghanistan: Sicheres Herkunftsland?, Caritasverband Kreisdekanat Mettmann/NRW, 18.30-21.30h,
http://www.regional.aktion-neue-nachbarn.de/veranstaltungen/Haan-Laenderabend-00002/
zusammen mit der Aktion Neue Nachbarn des Erzbistums Köln
Ort: Forum der Katholischen Kirchengemeinde, Breidenhoferstr. 1, 42781 Haan

08. Juni, Afghanistan: Fluchtursachen und Abschiebungsdebatte, „Caritasverband Kreisdekanat Euskirchen, 19h-21.30h mit der Aktion Neue Nachbarn für Flüchtlinge des Erzbistums Köln

22. Juni, Flucht aus Afghanistan – Zwischen Angst vor Abschiebung und unsicheren Rückkehrperspektiven,
Justus-Liebig-Universität Giessen, Hörsaal 2, 
18h, in Kooperation mit der Refugee Law Clinic (RLC, https://www.uni-giessen.de/fbz/fb01/studienprofil/rlc), die Flüchtlinge und Migranten in Universitäts-Städten und für Anhörungen zum Asylrechtsverfahren gegenüber dem BAMF rechtlich berät

vorherige Termine u.a.:
– Afghanistan – (k)ein Frieden in Sicht? Mittwoch, 05. April 2017, 19.00 Uhr; 
Annakirche Aachen: Amnesty International / Evangelische Stadtakademie Aachen in Kooperation mit dem Aachener Friedenspreis, Asylgruppe Aachen, Bistum Aachen, Eine Welt Forum Aachen (hier)
– Afghanische Geflüchtete in Deutschland – Zwischen Anerkennung und Abschiebung Fraktion die Grünen im deutschen Bundestag / 
Fachgespräch / Berlin, 03. März 2017 (Programm hier)
– Europäische Flüchtlingspolitik in der Sackgasse?
 Hohenheimer Tage zum Migrationsrecht, Diözese Stuttgart-Hohenheim 27.01. bis 29.01.2017 Mit einem Thesenpapier von mir zum Afghanistan-Panel (hier)