Wem gehört die Wahrheit? DOK-Leipzig 2019

Wem gehört die Wahrheit?
Was als Befreiungsschlag in der überhitzten Debatte um neue Rechte, gefährdete Demokratie und umstrittene Formen filmischen Dokumentierens über die gewalttätigen Ränder in unserer Gesellschaft gedacht war, kulminierte auf der DOK-Leipzig, Deutschlands grösstem Dokumentarfilm-Festival, in Momentaufnahmen, die Zuschauer wie Filmemacher auf ihre eigene Macht und Ohnmacht zurückverwiesen. Thomas Heise und Tamara Trampe, zwei Altmeistern des (ost)deutschen Dokumentar-Kinos, war es vorbehalten, persönliche Autoren-Haltung von geflissentlicher Film-Ästhetik zu unterscheiden. 
Heise drehte 1992 Stau, das Portrait einer Generation junger Neonazis nach der Wende.

„Die Sprüche solcher jungen Männer sortiere ich aus meinen Filmen von vornherein aus“, so Thomas Heise über seine Arbeit für Stau und andere seiner Arbeiten.  Foto: Stiftung Deutsche Kinemathek

Ein Versuch, die persönliche Faszination für Erscheinungsformen modernen Faschismus im vereinten Deutschland zu verstehen, wie Heise selbst sagt, und anhand ausgewählter Protagonisten sichtbar zu machen. „Heute“, so meint Heise zu wissen, „stellen solche jungen Menschen Forderungen an einen Dokumentarfilmer. Sie wollen ein positives Bild von sich selbst haben, wenn der Film fertig ist.“ Das Risiko des Autors, sich gemein zu machen mit seinem Sujet und den Protagonisten lauert nicht nur hier. 

Nach der Kontroverse um Lord of the Toys und Montags in Dresden in den vergangenen Jahren als vermeintlich unkritische oder ungenügende Auseinandersetzung mit gewaltbereiter neuer deutscher Gegenwart, lag den Machern des Festivals an meinungsbestimmender Reflexion mit Öffentlichkeit. Der temporäre Streitraum, der so zwei Tage lang abseits der Wettbewerbsfilme geschaffen wurde, gebar vor allem die Erkenntnis, dass das bleierne Erbe der autoritär-systemischen DDR-Geschichte jede Hoffnung auf eine rasche Einebnung festgefahrener Feindbilder zunichte macht. Neue Dialog-Bereitschaft landet am Ende bei der Banalität des Diskurses: Indem der Vortragende versteht, wie sein Gegenüber ihn interpretiert, entsteht im Besten Fall das nötige Bewusstsein für Dialog und Toleranz.

Ich war ein glücklicher Mensch: Eduard Schreiber und was von der Mauer blieb.  Foto DEFA-Stiftung S. Richter

Im Dialog bleiben angesichts solcher sich gegenseitig hochpeitschender Parallel-Welten – das will die scheidende Festival-Leiterin Leena Pasanen. Welcher Dialog? Gibt es eine Vision gar dazu in dieser utopiefeindlichen Zeit? Pasanen gibt den Stab weiter an Christoph Terhechte, der einige Jahre die Forum-Sektion der Berlinale geleitet hat und zuletzt künstlerisch das Filmfestival von Marrakesch. Kein ausgewiesener Dokumentarfilm-Spezialist bislang. Die Finnin Pasanen hatte es in den fünf Jahren an der Spitze des Festivals in Sachsen nicht einfach. „Die meiste Zeit werde ich dafür kritisiert, wie schlecht ich Deutsch spreche und wie wenig ich vor Ort integriert bin“, zieht sie in einem Interview Bilanz. Das klingt bitter. Auch etwas resignier. Ein Missverständnis? Weil ihre Beobachtung weniger den rechten Rand meint, schiebt sie ganz trefflich die Hälfte bei der Aufgabe einer gelungenen Integration der deutschen wie der Leipziger Seite zurück. Der neue Leiter der Dok-Leipzig, ursprünglich Journalist und Filmkritiker, ist wieder deutsch. Ein Zufall oder auch nicht. Ob er neue Schwerpunkte zu setzen vermag, regional verankert und doch fern von euro-zentrischen filmischen Erzählformen, wie sie eine neue Generation von in Deutschland lebenden Filmemacher abbildet?

Nicht nur deshalb hätte ein Film wie In the Name of Sheherzade auf dem Leipziger Festival mehr Aufmerksamkeit verdient. Die deutsch-iranische (oder iranisch-deutsche) Filmautorin Narges Kalhor spielt darin gekonnt mit Kraft und Gewalt narrativer Definitions-Macht an deutschen Filmhochschulen und wie diese auf angehende Filmemacherinnen einprasselt.

Wer hat die Macht zwischen Orient und Okzident?   Szene aus In the name of Sheherzade von Narges Kalhor

Vielerlei Verbiegungen und Verbeugungen der Jungen gegenüber den Älteren werden dabei sichtbar. Die Autorin begegnet dem mutig mit ihren eigenen Identitäten und Heimaten im Plural. Kalhors erfrischender Ausflug in ihren halb fiktiven Dokumentarfilm spendet wichtigen neuen Sauerstoff für Zuschauer wie für die Branche. Gut möglich, dass sich hier ein Typus neuen deutschen Heimatfilms abzeichnet, der viefältige Herkünften und Identitäten selbstbewußt und spielerisch auf die Leinwand bringt statt darüber zu lamentieren. Fiktionale, dokumentarische und Ebenen der Animation werden hier mit leichter Hand verwebt, das Risiko der Bloßstellung durch die Neugier am Anderen umschifft. 
Wohlgemerkt: Humor dieser Art hat es in Deutschland erfahrungsgemäß schwer, weshalb es wohl kein Zufall ist, dass ausgerechnet das Goethe-Institut diesen Film mit einem Preis ausgezeichnet hat. Nun wird In the Name of Sheherzade in acht Sprachen übersetzt für das Ausland. Dabei mag man dem Film vor allem eine Verbreitung auf deutschen Leinwänden wünschen.

Erzählerische Macht der Poesie. Szene aus In the name of Sheherzade von Narges Kalhor

Der Bedarf an frischer Luft für dokumentarische Formate ist überall mit Händen zu greifen. Immer ähnlicher kommen bestimmte Formate im Dokumentarfilm daher, nicht nur deutsche. Angestossen durch immer offener sich darstellende Allianzen zwischen Fernsehsendern, Produzenten und den Filmfestivals selbst. Manch außergewöhnliche, randständige Handschriften haben da das Nachsehen.

Auch deshalb blieb der pompös angekündigte Eröffnungsfilm The Forum über das Schweizer Weltwirtschaftsforum in Davos weit hinter seinen Möglichkeiten zurück.

Greta gegen den Rest der Welt? Das Davoser Forum im Film von Thomas Vetter.  Foto Philipp Künzli

Nicht nur angesichts seines Budgets wirft er Fragen auf. Kritische Führung und konsequente Autoren-Haltung eines Thomas Heise hätte man sich hier gewünscht. Stattdessen heftet sich der Film überwiegend an den Rockzipfel von Davos-Gründer Karl Schwab und seiner selbstkonstruierten Aura eines Weltregenten sui generis. Wir erfahren aus der FAZ, die für den Film Beraterdienste geleistet hat, dass Regisseur Thomas Vetter für die finale Fassung auf Bitten Schwabs sogar eine Passage herausgeschnitten hat. 

Wem also gehört die Wirklichkeit? Die politischen und wirtschaftlichen Eliten, die in Davos zusammenkommen, geben sich darüber vor dem Auge der Kamera offenbar ohne jeden Selbstzweifel. Die so auf den Dokumentaristen lauernde Medienfalle schnappt ein ums andere Mal zu. Vermutlich entginge man ihr am Ehesten mit der Attitüde eines fragenden 16-jährigen, der radikal neugierig an sein Sujet herangeht. Auch deshalb sind die wenigen Momente, in denen die Greta Thunberg in dem Film auftaucht, von einer Fallhöhe, die man dem Film auch ansonsten gerne gewünscht hätte.

Im Ganzen ist der Jahrgang 2019 einer der leisen Töne und eingehenden Beobachtungen, auch bei den prämierten Filmen.
 Die Goldene Taube für Exemplary Behaviour der litauischen Filmemacher Audrius Mickevičius und Nerijus Milerius im Internationalen Wettbewerb für den langen Dokumentar- und Animationsfilm ist dabei nicht die schlechteste Auswahl. Der Film ergründet Schuld und Sühne am Beispiel zweier zu lebenslänglicher Haft verurteilter Straftäter. Eine Fahrt in das Innere der menschlichen Seele, zwischen endgültigem Verlust und Wiedergutmachung.

Goldene Taube für Exemplary Behaviour: Was ist vorbildliche Führung?

Einblicke in aktuelle Kriegs- und Konflikt-Schauplätze – von Syrien über Venezuela oder Hongkong – spielten diesmal kaum eine Rolle. Dafür umso mehr Selbstbeschau, individuelle Befragung und Analyse vergangener Konflikte, weltweiter wie Dramen und Alltäglichkeiten deutsch-deutscher Doppelstaatlichkeit.
Zustand und Gelände, der Sieger im deutschen Wettbewerb, bildet wenig überraschend eine kompromißfähige Brücke zu den Sonderreihen des Festivals über die deutsche Vergangenheit
Ute Adamczewski filmt darin Orte und Gedenkorte in Sachsen, denen man nicht mehr ansieht, dass sie 1933 Schauplätze der NS-Verfolgung waren.


Zustand und Gelände: in kaum einer Region war die politisierte Arbeiterschaft so aktiv wie 1933 in Sachsen

Inwieweit die Filme ihren Autoren noch selbst gehören, wurde vor wie hinter den Kulissen angestrengt diskutiert. Nicht zufällig stehen etwa geflüchtete Autoren, die den Weg ihrer eigenen Flucht unter grosser Gefahr erfolgreich mit dem Handy auf Film gebannt haben, am Ende ihrer Flucht in mehr als einem Fall entrechtet da: Produktion und Vertrieb heimsen an ihrer Stelle internationale Erfolge und Preisgelder ein. Von den Filmrechten ganz zu schweigen.

Herr bleiben über sein eigenes Film-Archiv. aus Time to Come von Tan Pin Pin

Deshalb ist bedenkenswert, wenn die Film-Aktivistin Tan Pin Pin aus Singapur, der in Leipzig eine eigene Hommage gewidmet war, meint: „Each of us needs to own his or her own archive“. Jeder von uns soll also Herr (oder Frau) bleiben über sein eigenes Bildmaterial. Der aktuelle Trend geht wohlgemerkt genau in die andere Richtung. Google, Facebook oder Instagram lassen junge Menschen ganz vergessen, dass es so etwas wie das Recht am eigenen Bild(material) gibt. Wie die neuen sozialen Medien auf das dokumentarischen Filmgenre wirken, ist dabei noch nicht ausreichend untersucht. Zugleich lies es sich auf diesem Festival in der Reihe Dok-Neuland in Ansätzen beobachten. Tan Pin Pin Worte wirken dazwischen wie die einer eigenwilligen Mahnerin. Die Film-Festivals selbst ergreifen in dieser Debatte traditionsgemäß kaum ausführlich Position. Dabei liesse sich trefflich fragen, wie und wo ihre Mitverantwortung liegt, dafür, dass auch in Zukunft dokumentarische Filmvielfalt ihre Autoren und Autorinnen schützt und in den Mittelpunkt stellt.

Zur Kuratierung meiner erfolgreichen Sonderreihe Innenansichten Afghanistan für DOK-Leipzig siehe hier und hier .  Als Jury-Mitglied Internationales Frauen Filmfestival Herat in Kabul / Afghanistan siehe hier und hier


Bachs Hauskirche als Träger für politische Ressentiments: Aufschrift an der berühmten Thomas-Kirche im Zentrum von Leipzig.