Happy new year: The Mossul Front 2017

Die Zahl der Zivilisten, die aus Mosul vor dem IS fliehen wächst. Bis zu 3.000 pro Tag zuletzt, die in Lagern bei Erbil und in Kirkuk Aufnahme suchen, nach irakischen Angaben. Das bedeutet: eine kleine Stadt pro Tag. Dazu kommen die vielen Schwerverletzten, die einige der Krankenhäuser kaum noch aufnehmen können. Wenn dies so weitergehe, erzählt mir ein junger kurdischer Arzt im Emergency/Zana Roshava Hospital in Erbil, sei der Vorrat an Anästhesie-Spritzen, Blut-wärmenden Bädern und sonstigem Material bald aufgebraucht. Das Überleben der oft mit schweren Schusswunden eingelieferten Kinder, Frauen und Männer hängt damit an einem seidenen Faden. Wir brauchen dringend Hilfe, auch aus dem Ausland, diktiert mir der leitender Arzt in den Notizblock.
In der Not-Aufnahme steht auch ein belgischer Arzt von Ärzte ohne Grenzen/MSF, der sich anfangs Notizen macht, woran es fehlt. Wenig später greift er selbst helfend ein, so schnell rollen die Betten mit Verletzten herein. Eine ärztliche Oberaufsicht fehlt. Die zumeist jungen Ärzte und Assistenten operieren ohne Kittel, machmal im Strassenpulover. Es herrscht Durcheinander. Panik bricht nicht aus. Noch nicht, sagt ein kurdischer Arzt. Wenn aber nicht bald neue Medikamente, Material und Geräte aus dem Irak und aus dem Ausland einträfen, drohe ein Katasprophe. Auch jahrelange Korruption im heimischen Gesundheitswesen wirkten sich jetzt negativ aus.

Hilfe den Zivilisten, die aus Mosul fliehen also. Den Eingeschlossenen und den Flüchtlingen. Das muss ein mot d’ordre 
an Politik und internatinale Organisationen in 2017 sein. Wenn der Endkampf um Aleppo im zuende gegangen Jahr 2016 das Symbol vernachlässigter, ja verratener Werte ist, 
dann darf die irakische Millionen-Stadt am Tigris, in der jetzt noch wenige Hunderttausende in der Hand des IS vermutet werden, nicht dem Vergessen anheim fallen. Internationale Beobachter und Medien haben es schwer in diesen Tagen, in ihren Heimatredaktionen Gehör zu finden für die Schlacht um Mosul, in der ähnlich wie in Syrien ein gnadenloser Endkampf ausgetragen wird.  Zwischen verblendeten Fundamentalisten auf der einen Seite, denen es offenbar gelingt vor allem Jugendliche und jüngere Menschen einer fanatischen Gehirnwäsche zu unterziehen, und einer immer wieder an ihre Grenzen gelangenden Koalition aus irakischem und kurdischem Militär auf der anderen Seite. Verstärkt wird diese Koalition durch zum Teil fragwürdige Truppeneinheiten, die sich aus den Finanzkassen Teherans speisen sowie von Tausenden US-amerikanischer Militärberater und Spezialeinheiten, die jetzt vor allem mit vermehrten Eingriffen aus der Luft eine Entscheidung herbeiführen sollen. 
Damit droht vor allem die Zahl ziviler Opfern zu steigen. Zugleich fehlt es den Flüchtlingen am Nötigsten, wie ich mich gestern in den Lagern von Hassan Sham überzeugen konnte. Eine kleine mobile Ambulanz mit zwei drei Ärzten vor Schlangen von Menschen, Frauen wie Männern, für ein Lager von 15.000 Geflohenen. Nach Hilfe rufende Erwachsene und Kinder, die über zu wenig Wasser klagen und Nacht um Nacht gegen den Frost kämpfen in den hauchdünnen Wänden ihrer Zelte. 
Engpässe in der medizinischen Versorgung sind auch Folge der grassierenden Wirtschaftskrise in den kurdischen Gebieten im Nord-Irak. Weder bekommt Kurdistan nach eigenen Angaben die von der Bagdader Regierung zugesagten Mittel für ausreichend ärtzliche Versorgung der Flüchtinge, noch schaffen es die kurdischen Behörden zZ sämtliche Lücken und Nöte bei der Versorgung der über 1,2 Millionen Flüchtlinge und Binnenflüchtlinge in der Region zu stopfen. Hilfe aus dem Ausland und Europa, so das Bild vor allem für die Flüchtlinge der Mossul-Front, wird dringend benötigt.

Menschenrechts-Aktivisten berichten, dass die Flüchtlinge in den Lagern nach Religionen getrennt werden: Sunniten hier, Schiiten dort, Christen und Jesiden auch. Wenn das stimmt, bekäme eine politisch fatale Politik der Selektion in Gang, die für den Moment verständlich erscheinen kann, langfristig aber unabsehbare Folgen haben dürfte. Denn wenn die Menschen einmal nach Mosul, in ihre zerstörten Häuser und Strassen zurückkehren sollen, droht das neue Misstrauen gegen die Anderen den Alltag unmöglich zu machen. 
Dabei steht Mosul für eine Jahrtausend alte Geschichte interreligiösen Zusammenlebens. Pervertiert erst von Saddam Hussein, später dann durch eine US-Militärintervention, Al Qaida und jetzt durch Daesh. Der IS zieht sich immer weiter zurück in das Zentrum von Mosul, wenn man Berichten glauben darf, und in die westliche Stadthälfte. Er scheint eine Strategie der verbrannten Erde zu verfolgen. Rücksichtlos gegen alle und alles. Der Kampf im Westen der Stadt wird dabei womöglich nochmal deutlich schwerer und verlustreicher sein als das aktuelle Vorrücken irakischer Kräfte im Osten der Stadt. Während die Strassen im Ostteil der Stadt oft Schachbrettförmig angelegt sind, gleicht der Westen einem Gewirr aus Gassen und Strassen, die nicht linear verlaufen und in denen Häuserkampfe mit Snipern auf beiden Seiten das Fliehen für Zivilisten schwer möglich machen dürfte.
 Erschwert wird eine Lösung für Mosul dadurch, dass der IS nicht verhandeln wird um Waffenstilltand oder Frieden. Wir Deutschen wissen aus der Geschichte, was das bedeuten kann. Umso mehr gilt es zu verstehen, dass eine politische wie gesellschaftliche Linie von Aleppo und Syrien nach Mosul verläuft. Nicht nur, weil jesidischen Frauen aus Mosul verschleppt und verkauft wurden als Sexsklavinnen, auf Märkte in Raqqa bis nach Aleppo. Einige wenige haben das Glück, mit viel Geld zurückgekauft zu werden. Aber auch politisch hängt der Krieg in Syrien mit dem im Norden des Irak zusammen. Der neue kalte Krieg um Nahost, der zwischen Washington und Moskau auszubrechen droht, verheisst wenig Gutes auch für Mossul. Hilfe den Zivilisten, die es raus aus Mosul schaffen!, das heisst intelligente Diplomatie, damit für die Menschen 2017 nicht ein weiteres annus horribilis wird.